Karlebachs Vermaechtnis
einer Frau zusammen sein, als sich mit mir zu unterhalten. Obwohl sie noch vor ein paar Tagen alles dafür gegeben hätten, um mit mir zu sprechen. Als ich Sie eben gefragt habe, ob Ihnen etwas fehlt, haben Sie nicht die Wahrheit gesagt. Mit Sicherheit fehlt Ihnen etwas. Nämlich diese Frau.«
Ich richtete mich wieder auf. Lea servierte mir lächelnd meinen Vitaminsaft und winkte mit dem Hundert-Schekel-Schein.
»Ein weiteres Beispiel«, fuhr Karlebach fort, als Lea einen anderen Tisch bediente. »Lea haben Sie zunächst für hochnäsig gehalten. Dann hat Sie ein paar deutsche Worte zu Ihnen gesagt, und plötzlich war sie nett. Jetzt mussten Sie sich entscheiden, ob Sie sie hübsch oder hässlich finden sollten. Sie haben sie attraktiv gefunden, als sie auf Ihre Blicke nicht reagiert hat, haben Sie sich dafür entschieden, sie als guten Kumpel zu betrachten und nicht als begehrenswerte Frau.«
»Herr Karlebach, bitte«, sagte ich schwach. »Haben Sie übersinnliche Fähigkeiten?«
»Nein. Wenn ich den Nazis etwas zu verdanken habe, dann ist es meine Beobachtungsgabe. Die habe ich entwickelt, um zu überleben. Meine Augen sind hellwach, auch wenn ich eine Brille trage, meine Ohren sind immer gespitzt, gerade dann, wenn es aussieht, als ob ich mich hinter meiner Zeitung verstecke.«
Er bewegte seinen Kopf leicht in Richtung eines Tisches, an dem zwei Frauen mittleren Alters saßen. »Sehen Sie die beiden Frauen?«
»Ich bin ja nicht blind«, sagte ich mürrisch. »Ein Sehender sind Sie aber auch nicht. Eine von den beiden Frauen lügt. Welche ist es?«
Ich schaute angestrengt hin, bis die eine aufmerksam wurde und mir einen bösen Blick zuwarf. »Sie haben jetzt alles falsch gemacht«, belehrte mich Karlebach. »Man erkennt sofort, was Sie vorhaben.«
»Welche von den beiden hat denn nun gelogen?«
»Die linke. Wenn jemand lügt, kann er es nicht verbergen, auch wenn er es noch so sehr versucht. Er verhält sich anders, unbewusst natürlich. Manche werden rot im Gesicht, dann ist es ganz auffällig. Die meisten lügen geschickter, da muss man auf Kleinigkeiten achten: auf die Körperhaltung, die Sprechweise, die Stimme …«
»Und wenn ich lüge?«
»Ihr Gesicht ist ein offenes Buch. Sie werden sogar noch richtig rot.«
Ich versank wieder in meinem Stuhl.
»Was übrigens daraufhin deutet, dass Sie kein geübter Lügner sind.«
Ich dachte an Deborah und schämte mich. Sie hatte sicher von Anfang an bemerkt, dass ich sie nur benutzte, um an Karlebachs Briefe zu gelangen. Und sie hatte mich vielleicht ehrlich geliebt. Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch, rieb mit den Händen über mein Gesicht und sah Karlebach an. »Sie brauchen nichts zu sagen«, kam ich ihm zuvor, »ich weiß schon, das Sie wissen, woran ich gerade gedacht habe.« Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, fragte ich: »Was wissen Sie noch über mich?«
»Wollen Sie es wirklich hören?«
»Ja.«
»Sie sind nach Israel geflogen, um mich zu treffen. Zugleich waren Sie froh, einmal aus Deutschland wegzukommen, denn dort haben Sie eine Menge Probleme, ich vermute, mit Frauen, mit Ihrem Beruf oder Studium, vielleicht auch mit sich selbst. Sie haben sich mehr als gefreut, als Ihnen Mosche Mandelbaum sagte, wo Sie mich finden können, und waren mehr als enttäuscht, als ich nicht direkt mit Ihnen reden wollte. Sie sind ein kontaktfreudiger Mensch und offen für die jüdische und arabische Kultur. Sie können sich aber nicht entscheiden, auf welche Seite sie sich schlagen sollen. Sie haben nicht viel Geld. Warum sollten Sie sonst in einem billigen arabischen Hotel absteigen? Sie lieben die Wärme, denn als es in Jerusalem geschneit hat, sind Sie sofort ans Rote Meer gefahren und haben dort drei Tage in der Sonne gelegen. Dann sind Sie ehrgeizig, möchten endlich einmal eine große Geschichte schreiben. Sie sind sehr hartnäckig, dieses Ziel zu erreichen, aber Sie lassen sich auch leicht ablenken. Wenn die Sonne scheint, liegen Sie lieber faul am Strand, anstatt für Ihre Reisereportage zu recherchieren. Nun ja, in diesem Fall haben Sie Glück gehabt, dass Lea Ihnen viel erzählen konnte. Aber wenn Ihnen eine schöne Frau den Kopf verdreht, vergessen Sie alles um sich herum. Was ja durchaus angenehm sein kann, sich diesem Gefühl ganz hinzugeben, aber zum Erreichen des eigentlichen Zieles ist es nicht gerade förderlich.«
»Wollen Sie mir jetzt eine Moralpredigt halten?«
»Das möge Gott verhüten. Aber heute waren Sie nahe dran
Weitere Kostenlose Bücher