Karlebachs Vermaechtnis
aufzugeben.«
»Das bedeutet, ich habe es nur Ihrer Gnade zu verdanken, dass wir jetzt miteinander reden?« Ich war heilfroh, als Lea eine neue Bestellung aufnahm und mit einem Scherz die gespannte Atmosphäre auflockerte.
»Weshalb wollen Sie mit mir reden?«, fragte Karlebach.
»Das wissen Sie doch genau«, entgegnete ich.
»Ich kann es mir denken. Aber ich möchte es von Ihnen hören.«
»Von Opa Bernhard«, sagte ich nach einigem Überlegen, »habe ich eine alte Hebräische Bibel geerbt, die Familienbibel der Karlebachs. Sie haben eine Widmung hineingeschrieben und sie Opa Bernhard zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Er hat mir auch fünfundzwanzig Briefe von Ihnen hinterlassen. Die hält jedoch sein Sohn unter Verschluss. Einen Brief, er war aus Sidney und trug die Nummer 22, habe ich zufällig im Umschlag der Bibel entdeckt, die anderen konnte ich nur flüchtig sehen. Dass Sie noch leben, habe ich aus einem Brief geschlossen, den Sie kurz vor Opa Bernhards Tod aus Jerusalem abgeschickt hatten. Leider kenne ich weder den Inhalt dieses noch der anderen Briefe. Ich weiß auch nicht, warum sie fast fünfundzwanzig Jahre nicht geschrieben haben. Und was sie bewogen hat, sich plötzlich, nach so langer Zeit, noch einmal zu melden. Seltsamerweise hat mir Opa Bernhard nie von Ihnen erzählt. Obwohl er sein ganzes Leben wie ein Buch vor mir ausgebreitet hat. Ich könnte eine Biografie über ihn schreiben …«
Karlebach schaute mich regungslos an. »Opa Bernhard wollte mir am Abend vor seinem Tod noch eine Geschichte erzählen, die Geschichte vom Judenhaus. Ich hatte den Eindruck, er wusste von etwas, und das belastete ihn sehr. Er wollte es loswerden, vielleicht als eine Art Beichte. Aber es war zu spät. Als ich ihn am nächsten Morgen in den Gottesdienst fahren wollte, hatte er sich schon zu seinem Sterbeplatz aufgemacht.«
Als ich das Italienische Eck erwähnte, lächelte Karlebach. »Opa Bernhard hatte mir einen Zettel hinterlassen«, fuhr ich fort, »der ist leider verloren gegangen. Außerdem war er an den entscheidenden Stellen unleserlich. Ich weiß nur: Zwei Männer aus dem Dorf waren an einem schrecklichen Geschehen beim oder im Judenhaus beteiligt. Wer die beiden Männer waren und was sich ereignet hat, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich habe zwar einen Verdacht, aber noch keine Beweise. Ich habe ein Gelübde abgelegt und das will ich erfüllen. Das bin ich Opa Bernhard schuldig. Ich habe ihm viel zu verdanken. Er war für mich die Erhörung eines Kindergebets. Er war der Großvater, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Ich will die Geschichte vom Judenhaus aufklären.«
»Und jetzt hoffen Sie, ich kann ihnen bei der Lösung des Rätsels weiterhelfen?«
»Ich denke sogar, Sie selber sind die Lösung!« Karlebach schlug seine Beine übereinander, atmete hörbar ein und lehnte sich zurück. »Jetzt bin ich aber neugierig.«
»Sie sind der einzige Überlebende Ihrer Familie.«
»Das kommt in unserem Volk häufiger vor, dass aus einer Familie nur ein Einziger überlebt hat.«
»Mit dem schrecklichen Geschehen kann Opa Bernhard nicht die Vertreibung der Juden gemeint haben, denn dabei hat ja, wie mir erzählt wurde, das ganze Dorf zugeschaut. Und gejohlt. Außerdem sind die Verantwortlichen alle tot. Es muss also später gewesen sein, vermutlich im Zusammenhang mit dem Abriss des Judenhauses vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Und …!« Ich beugte mich vor. »Unrecht Gut darf nicht gedeihen, hatte Opa Bernhard noch geschrieben. Vielleicht ging es um das Grundstück. Vielleicht aber auch um Juwelen, die Ihr Onkel, der Juwelier, dort vergraben haben soll. In dem Brief Nummer 22 aus Sidney haben Sie sich bei Opa Bernhard für irgendwelche Informationen bedankt. Das war im November 1973, ein halbes Jahr bevor das Judenhaus abgerissen wurde. Sie kündigten in diesem Brief Ihren baldigen Besuch an. Also für mich«, schloss ich meinen Bericht, »laufen alle Fäden bei Ihnen zusammen.« Karlebach winkte Lea und bestellte für sich und für mich je einen koscheren Sandwich.
»Wie geht es dem jungen Pietsch?«, fragte er dann. »Dem jungen Pietsch? So jung ist der auch nicht mehr. Er ist ein braver Bürger und eine angesehene Persönlichkeit. Er dirigiert den Posaunenchor, sitzt im Kirchenvorstand, ist Landtagsabgeordneter und wird in sechs Wochen zum dritten Mal wieder gewählt. Danach soll er Wirtschaftsminister unseres Bundeslandes werden. Wenn er sich nicht vorher endgültig um den Verstand
Weitere Kostenlose Bücher