Karlsson vom Dach
Kinderaufpasser der Welt wisse wohl besser darüber Bescheid, wie Kinder im allgemeinen heißen.
«Kleine Goldsophie», sagte Lillebror, «ich glaube, du hast Hunger.»
Denn Goldsophie hatte seinen Zeigefinger gepackt und wollte daran lutschen.
«Hat Goldsophie Hunger? Nun, hier stehen Wurst und Kartoffeln», sagte Karlsson mit einem Blick auf die Kochnische. «Kein Kind braucht zu verhungern, solange Karlsson Wurst und Kartoffeln herbeizuschaffen vermag.»
Lillebror glaubte nicht, daß Goldsophie Wurst und Kartoffeln essen könne.
«So kleine Kinder bekommen sicher Milch», sagte er.
«Denkst du, der beste Kinderaufpasser der Welt wüßte nicht, was Kinder bekommen und was nicht?» fragte Karlsson. «Aber von mir aus — ich kann wegfliegen und eine Kuh holen.»
Er warf einen wütenden Blick auf das Fenster.
«Wenn es auch schwierig sein wird, das Kuhgestell durch dies kleine, schmale Fenster zu kriegen.»
Goldsophie suchte verzweifelt nach Lillebrors Zeigefinger und weinte kläglich. Es klang wirklich so, als habe sie Hunger.
Lillebror sah in der Kochnische nach, aber er fand keine Milch. Dort lagen nur drei Wurstscheiben auf einer Platte.
«Ruhig, nur ruhig», sagte Karlsson. «Mir fällt eben ein, wo es Milch gibt. Ich selber trinke dort immer mal einen Schluck. Heißa hopsa, ich komme bald wieder.»
Dann drehte Karlsson an dem Knopf, den er auf dem Bauch hatte, und brummte durch das Fenster von dannen, bevor Lillebror sich auch nur umgesehen hatte.
Lillebror bekam fürchterliche Angst. Wenn Karlsson nun stundenlang wegblieb, wie es seine Art war! Und wenn die Eltern des Kindes dann nach Hause kamen und Lillebror mit ihrer Goldsophie im Arm vorfanden!
Aber Lillebror brauchte nicht lange unruhig zu sein. Diesmal hatte Karlsson sich beeilt. Stolz wie ein Gockelhahn brummte er durchs Fenster herein, und in der Hand hielt er eine Säuglingsflasche.
«Wo hast du denn die her?» fragte Lillebror ganz verblüfft.
«Von meiner gewöhnlichen Milchstelle», sagte Karlsson. «Einem Balkon drüben auf Östermalm.»
«Hast du sie geklaut ?» fragte Lillebror völlig entgeistert.
«Ich habe sie geliehen», sagte Karlsson.
«Geliehen — wann willst du sie wieder zurückgeben?» fragte Lillebror.
«Niemals», sagte Karlsson.
Lillebror sah ihn streng an, aber Karlsson holte mit dem Arm aus und sagte:
«Eine kleine Flasche Milch — das stört keinen großen Geist! Die, von denen ich sie geliehen habe, die haben Drillinge, und die stellen haufenweise Flaschen in Eiseimern auf den Balkon raus, und die mögen es gern, wenn ich mir Milch für Goldsophie von ihnen leihe.»
Goldsophie streckte ihre kleinen Händchen nach der Flasche aus und schrie vor Hunger.
«Ich mache die Milch ein wenig warm», sagte Lillebror schnell und überließ Karlsson das Kind, und Karlsson schrie: «Buschi-buschi-buschi!» und schleuderte Goldsophie zur Decke empor, während Lillebror in die Kochnische ging und die Milch wärmte.
Und eine Weile später lag Goldsophie in ihrem Bett und schlief wie ein kleiner Engel. Sie war satt und zufrieden, und Lillebror hatte die Decke um sie festgestopft, und Karlsson hatte sie mit seinem Zeigefinger gepiekst und «buschi-buschi-buschi» geschrien, aber trotz allem schlummerte Goldsophie, weil sie satt und müde war.
«Jetzt machen wir einen kleinen Streich, bevor wir weggehen», sagte Karlsson.
Er ging in die Kochnische und holte die Wurstscheiben. Lillebror sah ihm mit großen Augen zu.
«Hier sollst du mal einen Spaß erleben», sagte Karlsson und hängte eine der drei Wurstscheiben auf den Griff der Küchentür.
«Nummer eins», sagte er und nickte befriedigt.
Dann ging er mit raschen Schritten zum Schreibtisch. Hier stand eine hübsche weiße Taube aus Porzellan, und ehe Lillebror es sich versah, hatte die weiße Taube eine Wurstscheibe im Schnabel.
«Nummer zwei», sagte Karlsson. «Und Nummer drei bekommt Goldsophie.»
Er steckte die Wurstscheibe auf ein Hölzchen und gab es der schlummernden Goldsophie in die Hand. Es sah wirklich lustig aus. Man hätte fast meinen können, Goldsophie hätte sich die Wurstscheibe selbst geholt und wäre darüber eingeschlafen. Aber Lillebror sagte doch:
«Nein, bitte laß das.»
«Ruhig, nur ruhig», sagte Karlsson. «Da werden ihre Eltern es sich abgewöhnen, sich abends rumzutreiben.»
«Wieso denn?» fragte Lillebror.
«Ein Kind, das selber aufstehen und sich eine Scheibe Wurst holen kann, das wagen sie nicht mehr allein zu lassen. Wer
Weitere Kostenlose Bücher