Karma-Attacke (German Edition)
gesprochen hatte, der Professor war. Und da ging es immer um tiefe Themen. Thara. Die Eltern. Mord. Hass. Vertrauen. Angst. Was ist Wirklichkeit? Den anderen Menschen machte das Angst. Aber worüber redeten sie dann? Übers Wetter? Sport? Filme?
«Macht ihr hier Urlaub?», fragte sie vorsichtig und kannte die Antwort im Voraus.
Wieder nickte der Junge.
«Ist der da im blauen Hemd dein Vater?»
Wieder nickte er.
«Dachte ich mir. Ist er nett?»
Wieder ein Nicken. Dann formulierte der Junge mit schweren, zitternden Lippen seine Angst. Tränen traten in seine Augen. «M … m … manchmal», stotterte er, «träume ich, dass ich sie verlieren könnte.»
«Du meinst deine Eltern?»
Er nickte nicht einmal, er schlug nur die Augenlider nach unten.
Also doch, dachte sie. Die Normalen haben auch solche Ängste und Träume.
«Ich weiß, wie das ist», sagte Vivien. «Ich habe meine Mutter verloren. Sie ist ermordet worden.»
«Ich t … t … träume manchmal, dass sie alle beide sterben. Bei einem U … U … Unfall. Vielleicht komme ich dann in ein Heim.»
Es tat Vivien gut, dass er so sprach. Sein Zittern beruhigte sie.
Sie bestätigte: «Ja, das kann passieren. Oder du drehst durch und kommst in eine Klinik. Das haben sie mit mir gemacht. Mein Vater ist nämlich nach dem Tod meiner Mutter selber ganz verrückt geworden. Er hat gesoffen und brauchte eine Therapie.»
Sie rülpste, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Die Wirtin schielte zu ihr herüber und rief: «Na, doch noch den Eisbecher?»
Vivien nickte. Sie brauchte jetzt Energie, viel und schnell. Außerdem gefiel es ihr in der Kneipe, weil sie sich hier so normal vorkam.
Sie bot dem Jungen an, von dem Eisbecher zu probieren. Er nahm einen Löffel mit einer heißen Himbeere darauf und verzog den Mund. «Mann sind die sauer!»
Vivien wusste nicht, wie er hieß, und er fragte sie auch nicht nach ihrem Namen. Trotzdem verband sie etwas. Sie fühlte sich fast, als hätte sie gerade einen kleinen Bruder bekommen. Das war der zündende Gedanke. Sie musste bezahlen, und sie hatte kein Geld.
Der Vater im blauen Hemd stand auf und ging zur Toilette. Die Gelegenheit nutzte Vivien. Sie ging zur Theke und sagte der Wirtin: «Wenn mein Papa fragt, ich bin noch zum Strand.»
Die Wirtin nickte. «Zieh dir aber was über, Kind. Es wird kalt.»
Vivien verließ das Lokal.
Der Junge rief hinter ihr her: «Hey, warte doch!»
Sie drehte sich um und ging noch einmal zu ihm zurück.
«Sehen wir uns wieder?», fragte er. «Wie heißt du eigentlich?»
«Uta!», flüsterte sie ihm zu. «Ich heiße Uta. Und wir sehen uns bestimmt.»
Sie strich dabei über seine Wange. Die Berührung tat ihr gut.
Vivien joggte am Strand entlang. Sie hatte ein Gefühl, als hätten sich die Würste in ihrem Magen zu einem lebenden Organismus vereint. Sie arbeiteten in ihr. Das tote, gekochte Fleisch schien in ihr lebendig zu werden.
So muss man sich fühlen, wenn man schwanger ist, dachte sie. Sie spürte das Strampeln der Füße. Ein Schwanz schlug hin und her. Sie wusste, dass ihre Erinnerung ihr einen Streich spielte. Sie war nicht schwanger. Sie hatte keine Hillrucs in sich.
Vivien lief immer schneller auf das Haus zu. Sie hörte ihren Atem. Ihr Herz pochte hinauf bis in ihr Gehirn, als würde jemand in ihrer Brust mit einer Trommel den Laufrhythmus schlagen. Ein Sklave auf einer Hillruc-Galeere. Sie wollte das alles nur noch hinter sich bringen. Sie spürte, dass sie bald von schlimmen Erinnerungen eingeholt werden würde. Sie wollte dann lieber, dass Professor Ullrich in ihrer Nähe war. Es war besser, die Erinnerungen bei einer Rückführung zu erleben, Kontakt zu haben zu einem Menschen, der verstand, was geschah, und sie zurückholen konnte, als einfach so davon überflutet zu werden.
Sie stürzte in den Sand, raffte sich wieder auf und rannte weiter. Ihr wurde schlecht. Im Laufen musste sie sich übergeben. Sie wollte auf keinen Fall stehen bleiben. Auf gar keinen Fall! Erbrochenes tropfte an ihrem Hals herunter und klebte auf dem T-Shirt. Egal! Sie würde sich sofort aufs Bett werfen und rufen: «Führ mich zurück, Peter, führ mich zurück! Es geht schon los!»
Sie konnte sich auf ihn verlassen. Das wusste sie. Er würde es sofort tun. Er würde alles stehen lassen. Er würde augenblicklich mit ihr zurückgehen nach Thara.
Die Tür stand einen Spalt weit offen. Vivien stieß sie weit auf, rannte durch den Flur in den Wohnraum und schrie: «Peter! Peter!
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