Karma Girl
fuhr einfach drauflos, ganz langsam und gemütlich, während um mich herum der Himmel immer diesiger wurde. Ich beschloss, nach Downtown zu fahren und mehr Fotos zu machen. Denn mittlerweile hatte auch ich Karsh etwas zum Geburtstag geschenkt: eine Auswahl meiner bisherigen Farbfotos (natürlich zusammen mit dem Foto von Gwyn, um das er mich gebeten hatte), die sehr schön geworden waren und auf die ich ziemlich stolz war. Aufnahmen aus dem HotPot waren auch darunter sowie Fotos, die ich auf den Straßen von New York geschossen hatte. Wenn ich ihn schon nicht in mich verliebt machen konnte, konnte ich ihm immerhin meine Gefühle auf diese Weise zeigen. Und dafür schienen mir diese Sommerfotos genau richtig zu sein – Bilder sagten doch viel mehr als schnöde Worte. Also hatte ich großformatige Abzüge gemacht und sie einfach in einer Mappe vor seine Tür gelegt.
Manhattan wäre an diesem Tag auch ein mögliches Ziel zum Fotografieren gewesen, aber irgendwie machte mir die Vorstellung Angst, dorthin zu fahren. Man kam sich da manchmal so einsam vor. Und wie einsam würde ich mich erst heute dort fühlen, wo ich doch wusste, dass Gwyn sich momentan auch da aufhielt. Denn heute, so erinnerte ich mich jetzt, war der Tag, an dem sie ihr Model-Debüt geben würde: das Shooting im Central Park.
Ich stellte das Auto ab und spazierte träumend durch die Straßen. Manchmal zoomte ich mit Chica Tikka das eine oder andere Motiv heran, aber meistens knipste ich doch nicht und schlenderte weiter. Ehe ich mich versah, fand ich mich auf dem kleinen Platz wieder, der schräg gegenüber von Gwyns Starbucks lag und auf dem gerade Wochenmarkt war.
Mir schossen Tränen in die Augen, denn es war ziemlich bitter, zu wissen, dass sie heute nicht da war. Andererseits war das wahrscheinlich der Grund gewesen, warum ich mich überhaupt sicher genug gefühlt hatte, hierher zu kommen. Ich konnte es mir allzu gut vorstellen, wie sie im Central Park posierte: im Hintergrund Nebel, der langsam über die Felsen hinab zum Wasser kroch, und im Vordergrund nur schemenhaft zu erkennende Schwäne. Ich drückte ihr beide Daumen und alle anderen Finger dazu, dass alles gut für sie laufen würde.
Doch auf einmal brauchte ich sie mir gar nicht mehr vorzustellen. Sie kam aus dem Starbucks und fläzte sich auf eine Bank, von der schon die Farbe abblätterte und die neben dem Händler auf dem Bürgersteig stand.
Mein Herz machte vor Freude und Aufregung einen gewaltigen Satz. Ich ließ Chica Tikka sinken und versteckte mich hinter einem Stand, begriff dann aber schnell, dass ich viel zu weit weg war, um von ihr gesehen zu werden. Selbst wenn ich näher dran gewesen wäre, wäre es an einem solch nebligen Tag praktisch unmöglich, dass sie mich erkannte. Ob sie mit dem Shooting schon fertig war? Bestimmt nicht: Denn es war eher unwahrscheinlich, dass sie sich ausgerechnet an solch einem Tag eine Schicht aufhalste. Unwahrscheinlich, dass sie ihre grüne Arbeitsschürze tragen würde, wenn doch eigentlich modeln angesagt war. Ich fragte mich, was da passiert war.
Ich zoomte näher heran. Sie saß zwischen ihrem Rucksack und ihrer Lunch-Box, hielt einen Kaffeebecher in beiden Händen, als würde sie sich daran festhalten, und nahm keinen einzigen Schluck. Es wirkte, als wolle sie sich vor Kälte schützen. Außerdem sah sie ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte.
Keine Rede von Zöpfen: Ihre offenen Haare standen ein bisschen wirr vom Kopf ab und die sonst golden schimmernden Strähnen verschwanden völlig im Nebel. Die Schürze verdeckte zwar ihre anderen Klamotten, aber ich konnte trotzdem erkennen, dass sie weder Sweatshirt noch Kunstlederhose darunter trug. Es sah mehr nach Jeans und einem T-Shirt aus, auf dem »Nowhere« stand. Make-up: minimal; ihr Gesicht sah irgendwie kindlich aus – ein Gesicht, das wirkte, als hätte da jemand seit langem keinen richtig guten Witz mehr gehört. Die herab hängenden Mundwinkel ließen sogar eher darauf schlie ßen, dass sie eine sehr traurige Geschichte gehört hatte.
Es war das Gesicht eines kleinen Mädchens, das sich eingesperrt fühlte. Und ich fragte mich, wie wir diese Barriere zwischen uns aufgebaut hatten, Schranke um Schranke, Junge um Junge.
Sie war aufgestanden und setzte sich den Rucksack auf. Während ich sie so beobachtete, verzerrte sich ihr Bild in meinen tränennassen Augen – wie ein Spiegelbild im Wasser, das allmählich in den Wellen verschwindet. Ich setzte die Kamera ab und
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