Karma Girl
nicht mehr sehen zu können. Es war, als hätte er ein regelrechtes Loch in unserem Haus hinterlassen. Und wenn ich daran denke, dass ich nur deshalb nicht sofort nach Hause geflogen bin, nur weil ich eine Klausur nicht verpassen wollte … Wie blöd kann man nur sein? Nun werde ich ihn nie wiedersehen! Das hat mir wirklich die Augen geöffnet: Es ist so wichtig, in der Gegenwart zu leben und zu wissen, was wirklich zählt. Das Leben ist einfach viel zu kurz, Dimple.«
Hm, was zählte denn? Meistens hatte ich das Gefühl, als würde mein Leben nur vollkommen ziellos dahinplätschern.
»Na, es gibt immer noch die Wiedergeburt«, sagte ich, um sie aufzumuntern. »Und vielleicht haben wir ja neun Leben.«
Sie sah mich mit festem Blick an und sogar auf ihren sonst immerfort lächelnden Lippen war plötzlich keine Spur von einem Lächeln mehr zu sehen.
»Aber dieses könnte immerhin das letzte sein«, sagte sie.
★ ★ ★
Den ganzen Tag über hatte das Haus nach Gewürzen geduftet, und nun standen all die herrlichen Gerichte, die meine Mutter in der Küche gezaubert hatte, vor uns. Meine Mutter hatte ein wahres Schlemmerfest vorbereitet, und erst jetzt fiel mir auf, wie hungrig ich eigentlich war. Im Grunde war ich gar nicht mal so ein großer Fan der indischen Küche, jedenfalls nicht täglich – aber heu te war allein der Anblick der farbenfrohen Speisen der reinste Genuss.
Der Esstisch bog sich fast unter all den Tellern und Töpfen, Süßes und Salziges stand nach guter indischer Art nebeneinander. (Früher war mir nie aufgefallen, dass dies eine typisch indische Sitte war – bis zu dem Tag, an dem mich meine Mitschüler angewidert ansahen, weil ich mein Tunfisch-Sandwich zusammen mit einem Stück Obsttorte gegessen hatte.)
Als Kavita die Küche betrat, musste sie bei diesem überwältigenden Anblick innehalten.
»Baapray!«, rief sie, während sie sich vom ersten Schock erholte und auf einen Stuhl setzte. »Tantchen, ich fühl mich, als hätte ich Geburtstag!«
»Ach, das ist doch nicht der Rede wert, Beta«, entgegnete meine Mutter. »Das hat alles nicht lang gedauert.«
»Was kann ich euch denn zu trinken anbieten?«, fragte mein Vater. »Kavita, Beta?«
»Oh, ein Glas Wein wäre nicht schlecht«, sagte sie. Beinahe hätte ich mich an meinen eigenen Mandeln verschluckt.
»Du … äh«, stotterte mein Vater und warf meiner Mutter einen irritierten Blick zu. Es war klar, dass er eher an etwas wie Ginger Ale, Preiselbeersaft oder Wasser gedacht hatte. Vor allem die gesundheitsfördernde Wirkung von Preiselbeersaft hatte es ihm angetan.
Meine Mutter sah auch meinen Vater an. Und ich blickte zu Boden, um nicht lachen zu müssen. Das war mal eine ganz neue Situation!
»Äh …«, stammelte meine Mutter, »ich glaube, wir haben gar keinen …«
»Sicher haben wir welchen«, unterbrach ich sie, während ich weiterhin auf meinen Schoß starrte. Als Alkoholiker der Familie musste ich schließlich den Erwartungen gerecht werden. »Unter all den Weihnachtsgeschenken im Arbeitszimmerschrank waren auch ein paar Weinflaschen dabei. Ich hole sie schnell, wenn ihr wollt.«
★ ★ ★
»So, Kavita, und du bist also den ganzen Tag an der Uni mit Studieren und Nachdenken beschäftigt?«, fragte mein Vater.
»Ja«, antwortete Kavita. »Ich denke ganz schön viel nach, das stimmt.«
»Warum zeigst du Dimple nicht mal die Uni? Es ist nie zu früh, um ans Studium zu denken, Beta.«
»Das mach ich gern, Dimple! Es ist eine wunderbare Uni! Voller spannender Leute! Und ganz New York ist der Campus – also im Grunde die ganze Welt. Es gibt dort sogar eine große Gruppe südasiatischer Studenten.«
»Südasiatisch?«, fragte meine Mutter. »Du meinst wohl indisch?«
Ich wunderte mich auch ein bisschen, das klang einfach zu seltsam.
»Inder sind natürlich auch dabei«, lächelte Kavita. »Durch Sabina bin ich ein bisschen in der südasiatischen Szene drin. Wir organisieren gerade eine Veranstaltung zum Thema »Südasiatische Identität«. Die Eröffnungs party findet schon in ein paar Wochen statt.«
»Südasiatische Identität?«, fragte mein Vater.
»Südasiatische Szene?«, fragte ich. Was für eine Szene? Meistens fühlte ich mich wie die einzige Inderin auf dem gesamten Planeten – wenn ich mich überhaupt mal als Inderin fühlte.
»Das wäre doch auch etwas für dich, Dimple«, fand meine Mutter.
»Ma -«
»Besonders nach den Ereignissen von heute Morgen, junges Fräulein«, sagte sie streng. »Kann
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