Karma Girl
Küche anzusehen: die Tassen, verziert mit Teeschlieren, daneben Zucker auf der Tischplatte. Alles war noch so erfüllt von Leben, und das Lachen schien nachzuklingen, so klar wie der Ton, wenn sich Tasse und Untertasse berühren.
26. KAPITE L
Seelenverwandtschaft
In dieser Nacht konnte ich partout nicht einschlafen. Irgendwann stand ich auf und tapste leise durchs Haus. Ich fing die Tür vom Windfang auf, bevor sie laut zufallen konnte, und ging auf die Veranda hinaus. Dort setzte ich mich auf die vorletzte Stufe von oben, lehnte mich gegen die oberste Stufe und zog die Knie unters Kinn. Es war ziemlich windig und die laue Sommerluft prickelte wie kleine Nadelstiche auf meinen nackten Armen. Der Himmel war mit Sternen übersät; zu viele, um sich einen herauszupicken und sich etwas zu wünschen. Kaum vorstellbar, dass etliche davon bereits tot waren, im Prinzip gar nicht mehr da. Hoffentlich waren das nicht gerade die, bei deren Anblick ich mir mal etwas gewünscht hatte. Das würde so einiges erklären. Oder es zählte immer noch, aber es brauchte einfach nur ein bisschen länger, bis der Wunsch wieder zur Erde hinabgereist war und in Erfüllung ging.
Plötzlich fiel mein Blick auf etwas, was auf der untersten Treppenstufe lag und wie eine zusammengerollte Katze aussah. Ich beugte mich nach unten. Es war ein Paar Turnschuhe.
Mein Herz tat einen Hüpfer. Für einen Moment hatte ich die komplett irre Vorstellung, Karsh würde vor mir stehen, so als sei er wie ein Geist aus seinen Schuhen aufgestiegen. Doch dann erinnerte ich mich an sein Faible fürs Barfußlaufen. Er musste die Schuhe einfach vergessen haben.
Die Schuhe zeigten mit den Spitzen Richtung Haus. Ich beugte mich noch weiter hinab und sah genauer hin. Die rote Farbe war schon recht ausgeblichen; das musste ein ganz schön knalliges Paar gewesen sein, als er sie kaufte.
Ich nahm einen Schuh in die Hand. Ein paar neue Schnürsenkel konnten nicht schaden, denn ein Ende war völlig aufgedröselt, als hätte sich ein wild gewordener Hund darüber hergemacht. Ich hob auch den anderen Schuh hoch. Karsh hatte relativ große Füße, wie mir nun, mit den beiden Schuhen in den Händen, auffiel.
Dann zog ich mir die Schuhe an und fühlte mich dabei ziemlich verwegen.
Die Schuhe rochen ein bisschen nach Schuhschrank und gemähtem Gras, nach Asche und fast verdorbenen Lebensmitteln. Es fühlte sich warm an darin und meine Zehen hatten jede Menge Platz zum Wackeln. Ein bisschen Sand schien auch darin zu sein. Ein komisches Gefühl war das, in Karshs Schuhen zu stecken: gemütlich und gruselig, und ich fühlte mich furchtlos und beschützt – alles auf einmal.
Jetzt verstand ich plötzlich, wie ganz banale Gegenstände praktisch zu etwas Heiligem werden können. Die Menschen hinterließen nun einmal ihre Spuren auf allem, was sie anhatten oder berührten. Und Schuhe – nun, die trugen sozusagen das ganze Gewicht einer Person, sodass sie, selbst wenn die Person sie gerade nicht anhatte, ihre Existenz symbolisierten. Darum hatte also Sita nach den Chappals meines Vaters gefragt: Wenn sie ihn schon nicht bekommen konnte, wollte sie wenigstens eine Erinnerung an ihn. Und die garantierten seine Schuhe auf die erdenklich beste Weise.
Ich zog die Schuhe wieder aus und stülpte die Laschen nach vorn, sodass man besser hineinschlüpfen konnte. Dann trug ich sie hinauf auf die Veranda, damit sie vor Regen geschützt waren – schließlich konnte es nachts im Sommer immer mal einen Schauer geben. Ich stellte sie so hin, dass sie wie zuvor mit den Spitzen in Richtung Haus zeigten. Ein wohliges Gefühl durchströmte mich und ich ging wieder hinein. Zu dem wohligen Gefühl gesellte sich auf einmal eine Art Schwindel.
Und mit dem Schwindel begann sich bei mir im Bett ein Gedanke festzusetzen, gerade als ich kurz vor dem Einschlafen war und mich wie ein Embryo zusammengerollt hatte, die Fersen in den Händen und den Kopf auf die Brust gelegt.
Ich hatte mich in Karsh verliebt.
27. KAPITEL
Ein Trugbild
»Beta! Besuch für dich!«
Und dann zu jemand anderem, glücklicherweise mit ebenso lauter Stimme:
»Geh ruhig nach unten, Karsh. Ja, das ist schon in Ordnung, Beta, da bin ich mir ganz sicher. Sie ist in ihrer Verdunkelungskammer.«
Karsh! Beinahe hätte ich die Entwicklungsschale fallen lassen. Mist – ich war gar nicht geschminkt. Zum Glück hatte ich mir wenigstens die Haare gebürstet, Zahnseide hatte ich allerdings noch nicht benutzt. Und ich trug lediglich ein
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