Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Karma Girl

Titel: Karma Girl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanuja Desai Hidier
Vom Netzwerk:
du erst ein paar Monate alt warst, zum Beispiel als du zum ersten Mal einen Wauwau gesehen hast oder wenn deine Windeln voll waren. Aber jetzt geht es nicht mehr um Wauwaus und Windeln. Tja, so ist das wohl, ist ja nur natürlich, vor allem in Amerika. Seltsam – wenn mir damals jemand vor meiner Abreise aus Indien gesagt hätte, dass ich dadurch meine Tochter noch schneller verlieren würde, dann hätte ich mich nicht von der Stelle gerührt.«
    Er grinste plötzlich und rieb sich hektisch die Hüfte. Diesen eingebildeten Juckreiz hatte er immer in Momenten wie diesen, wenn ihm seine unvermittelte Offenheit peinlich war. Normalerweise gab er seine Gefühle nie so preis.
    »Und wäre ein Bauer in Varad geblieben … ha, von wegen!«
    Er wollte das Ganze offenbar schnell in einen Witz verpacken, aber ich wusste, dass es sich nicht um einen Witz handelte. Keine Ahnung, warum, aber ich hätte losheulen können. Ich sah meinen Vater an und registrierte – wie mir schien, zum ersten Mal – seine silbergrauen Schläfen und den kaum sichtbaren, kleinen, blanken Kreis oben auf dem Kopf.
    »Papa«, sagte ich und legte meinen Kopf aufs Lenkrad, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte.
    »Ja, Beta?«
    »Erinnerst du dich daran, wie du mir gesagt hast, dass ein Junge, der mich nicht heiraten will, komplett verrückt sein muss?«
    »Ja.«
    »Glaubst du das immer noch?«
    »Natürlich! Mehr denn je, Beta.«
    Ich hatte ziemliche Angst davor, aber ich musste einfach fragen.
    »Warum bittest du denn dann ständig um einen Ehemann für mich?«, platzte ich heraus.
    »Wie bitte?«
    »Du weißt schon, all die Extra-Gebete morgens in der Küche. Vor Saraswati.«
    »Ein Ehemann?«, sagte mein Vater ernsthaft überrascht. »Ich habe nicht für einen Ehemann für dich gebetet, Beta. Obwohl das wahrscheinlich eine mögliche Definition für einen Jeevansaathi ist.«
    »Jeevan sutthy?«
    »Jeevan saa thi«, korrigierte er meine Aussprache. »Das bedeutet so viel wie Lebensgefährte. Seelenverwandter. ›Jeevan‹ bedeutet ›Leben‹, ›Saathi‹ ›Gefährte‹. Jemand, mit dem man sein Leben verbringen möchte. Darum habe ich für dich gebetet. Das ist alles.«
    Mir stand das Herz still. War meine Wahrnehmung der Dinge etwa derartig verzerrt? Worin hatte ich mich sonst noch geirrt? Für mich war mein Vater mehr oder weniger ein ewiger Kontroll-Freak, der sich altertümlichen Ritualen hingab – und währenddessen bat er für mich die Götter um etwas so Bescheidenes und Schönes wie einen Lebensgefährten. Da war jegliche Kritik fehl am Platze.
    Ich war zugleich unglaublich traurig und unglaublich glücklich, und das Gesicht meines Vaters war viel zu freundlich und besorgt und verständnisvoll, um hinzu gucken. Auf einmal wurde mir bewusst, dass er die ganze Zeit etwas hatte, wovon die meisten nur träumen kön nen: den Durchblick.
    Ich schluchzte, und er legte mir eine Hand auf die Schulter, um mich zu beruhigen. Schließlich sank ich vornüber auf die Hupe, die sofort voller Mitgefühl tutete.
    »Beta, ich hoffe, ich habe dich nicht gekränkt«, sagte er beunruhigt. »Ich scheine zurzeit immer das Falsche zu sagen. Ich bin wohl kein guter Ersatz für deine Mutter, was? Möchtest du wieder nach Hause?«
    »Nein«, sagte ich. »Will ich nicht.«
    Ich gab mir einen Ruck, setzte mich aufrecht hin, strich mir die Haare aus dem Gesicht und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang an. Ich fuhr vom Parkplatz und bog auf die Hauptstraße. Dann hatte ich eine bessere Idee und wendete mitten auf der Straße, als alles frei war.
    »Wohin fahren wir?«, fragte mein Vater und blickte zwischen Straße und mir hin und her.
    »Ich hab da so 'nen gewissen Appetit auf etwas«, sagte ich.
    Einen Moment lang schien er irritiert zu sein, dann grinste er unbekümmert. Es war sein Muffin-FrühstückGrinsen.
    ★ ★ ★
    Später, am Abend, lange nach unserer süßen Schlemmerei, schlich ich mich ins Arbeitszimmer. Und ganz unten im Wandschrank fand ich sie. Der schwere schwarze Koffer war ganz grau vor lauter Staub. Ich öffnete das Schloss, trug die alte Maschine ins Esszimmer und stellte sie auf den Tisch. Dann spannte ich ein Blatt Papier ein und drückte auf den Schalter, mit dem man die Schriftfarbe wählen konnte. Die Stuhlhöhe war nun genau richtig. Ich legte meine Finger sachte auf die Tasten und atmete tief durch, so als ob ich die lang ersehnte Interpretation von »Für Elise« zum Besten geben würde. Doch das Folgende war nicht für Elise,

Weitere Kostenlose Bücher