Karma Girl
die Arme fallen und verschränkte sie dann vor der Brust.
»Du hast vielleicht ein bisschen abgehobenere Begriffe dafür, Begriffe, die so klingen, als wäre das alles so einzigartig und so kompliziert«, sagte sie. »Glaubst du wirklich, ich würde nicht mit genau denselben Problemen kämp fen?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So hatte ich darüber noch nie nachgedacht, und mir war nicht ganz klar, ob ich überhaupt hundertprozentig mit ihr übereinstimmte. Doch wenn Gwyn erst einmal so richtig in Diskutierlaune war, dann Gnade Gott demjenigen, der versuchte, dagegenzuhalten.
»Du meinst also wirklich, dass ich dir bei deiner Suche nach dir selbst im Wege stehe?«
Sie rieb sich die Arme, und zwar ziemlich heftig. Zwischen uns hatte sich auf einmal eine seltsame Kälte breit gemacht, und ich spürte allmählich, wie mir in der Magengegend flau wurde.
»Und wir als Zwillingsschwestern, was ist damit?«, fragte sie mit gebrochener Stimme. »Ich wollte dir helfen, dich unterstützen. Dir die Identität geben, die du suchst.«
»Ich weiß nicht, Gwyn«, sagte ich leise. Ich zitterte am ganzen Körper, was vielleicht daran lag, dass ich immer noch nicht laut aufgeschrien und geweint hatte. Wahrscheinlich hatte sich einfach alles in mir aufgestaut. »Irgendwie hab ich seit einiger Zeit das Gefühl, dass du mir immer nur alles wegnimmst.«
Ihr Mund öffnete sich, aber sie sagte kein Wort. Ihre Zunge war vom Kaugummi ganz lila und ihre Augen schimmerten sehr, sehr blau.
Man konnte ihr ansehen, dass sie genau wie ich unter all den aufgestauten Gefühlen litt. Und es war eindeutig, dass sie mir meine Anspannung ebenfalls ansah. Tief in uns wollte keine von uns beiden der anderen wehtun. Ich kapierte nicht, warum wir uns nicht entgegenkamen, warum wir nicht einfach sagten Ach, komm, hören wir auf damit und über die Situation lachten. Schließlich muss ten wir das alles doch in Relation zu den vielen, vielen Jahren unserer Freundschaft sehen.
Doch weil das Herz ohnehin schon schwer war, zogen genau diese Jahre uns noch weiter runter. Die ganzen Erinnerungen waren jetzt eine einzige Belastung. Es schien praktisch unmöglich, sie zu bewahren, ohne sie kaputtzumachen; es schien undenkbar, diese Kindheitsfreundschaft in die Erwachsenenwelt hinüberzuretten. Man hatte den Eindruck, es wäre am einfachsten – wenn auch am unklügsten –, darauf keine Rücksicht mehr zu nehmen und alles einfach sausen zu lassen.
Trotzdem hämmerte es unaufhörlich HaltdieKlappe-HaltdieKlappeHaltdieKlappe in meinem Kopf, und diese Worte richteten sich an uns beide: Zerstör nicht diese wunderbare Freundschaft! Dieser Moment könnte ein ganz besonderer werden, darüber waren wir uns beide im Klaren, während wir uns unsicher ansahen. Es könnte ein Moment werden, in dem wir uns gegenseitig vor uns selbst retten und alles noch zum Guten wenden könnten, indem eine zuerst das entscheidende Wort aussprach.
Doch ich schwieg. Und als Gwyn weiterredete, sagte sie dieses Wort auch nicht.
»Na gut, wenn das wirklich deine Meinung ist, dann weiß ich nicht, warum wir uns hier überhaupt noch unterhalten«, sagte sie mit einer Stimme, die ich kaum wiedererkannte, die nach ihr klang und auch wieder nicht, wie wenn man sich selbst bei jemand anderem auf dem Anrufbeantworter hört. »Vielleicht sollten wir mal 'ne kleine Auszeit voneinander nehmen. Das Nächste, was ich dir wegnehmen sollte, bin vielleicht … ich.« Sie hatte sich ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt, aber ich konnte ihren starren, durchdringenden Blick trotzdem noch erkennen.
»Nee, weißt du was?«, fügte sie hinzu. » Du gehst. Ich treff mich mit Karsh. Und du kommst uns ab jetzt nicht mehr in die Quere. Ich glaub, ich möchte für 'ne Weile nicht mehr mit dir reden.«
★ ★ ★
Ich war viel zu niedergeschlagen, als dass ich etwas anderes hätte tun können, als zu gehen. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Blut schien auf einmal völlig anders zu zirkulieren und meine Organe waren in wildem Aufruhr wie bei einem Erdbeben. Ich lief weiter und weiter, und ehe ich mich versah, stand ich wieder vor Gwyns Haus, als ob ich gar nicht imstande war, mich von ihr fern zu halten. Aber natürlich war sie ja gar nicht zu Hause.
Ich rannte zum Mirror Lake, setzte mich auf die Brücke und ließ die Beine baumeln.
Wie hatte der ganze Schlamassel bloß begonnen? Wann hatte es angefangen, so unglaublich kompliziert zu werden, einfach der zu sein, der man war?
Mein Geburtstag. Es
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