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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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Gezweig zu grünen
Tunneln verwandelt, wanden sich im Zickzack den breiten Kanälen zu, die sich
über die ehemaligen Vororte der Stadt erstreckten. Überall drang Schlamm ein,
schichtete sich an Eisenbahnviadukten und Häusermauern hoch, sickerte durch
überschwemmte Arkaden, füllte viele der kleineren Seen und verwandelte sie in
gelbe, schwammbedeckte Morastscheiben, aus denen Tausende einander bekämpfender
Pflanzenformen sprossen – Paradiesgärten des Wahnsinns.
    Mit Nylongurten fest an das
Außengeländer geschnallt, beugte sich Kerans nach unten. Er sah auf die
ausgebreitete Landschaft, blickte in jeden Wasserlauf zwischen den drei
Hauptlagunen. Der Schatten des Hubschraubers sauste über die fleckiggrüne
Wasserfläche und Bambushaine; Wasserschlangen ringelten sich um die Baumstämme,
Leguane saßen wie steinere Sphinxen auf den Simsen der versunkenen Häuser,
ganze Schwärme von Fledermäusen flogen aus den grünen Baumtunneln auf. Oft
schien es ihm, als flüchte eine menschliche Gestalt vor dem Geräusch des
Hubschraubers, versteckte sich hinter einem der Fenster auf Höhe der
Wasserfläche, er stellte dann aber immer wieder fest, daß es nur ein Krokodil
war, das nach einem Wasserhuhn schnappte, oder das Ende eines schwimmenden
Baumstammes, den die vom Propellerwind gepeitschten Farne losschnellten.
    Dreißig Kilometer weiter standen noch
die Frühnebel vor dem Horizont, riesige goldene Dampfballen hingen wie Vorhänge
vom Himmel, über der Stadt selbst war die Luft klar und leuchtend, die
Auspuffgase des Hubschraubers zeichneten eine glitzernde, wellige Spur. Als der
Pilot in großem Bogen weiter nach draußen flog, lehnte sich Kerans an die
Einstiegluke und betrachtete das hübsche Bild. Seine Suche nach Hardman hatte
er aufgegeben.
    Die Möglichkeit, ihn aus der Luft zu
entdecken, war ohnehin verschwindend gering. Sofern er sich nicht in einem
Gebäude in der Nähe des Hauptquartiers versteckt hatte, mußte er Wasserwege zur
Flucht benützen, wo er vor Einblicken aus der Luft durch die überhängenden
Farnbäume geschützt war.
    Riggs und Macready suchten vom
hinteren Ausstieg aus weiter die Gegend ab; sie reichten sich gegenseitig einen
Feldstecher zu. Ohne seine Militärmütze, die wehenden, semmelblonden Haare über
dem Gesicht, sein kleines Kinn entschlossen nach vorne gestreckt, sah Riggs wie
ein wildgewordener Spatz aus.
    Als er merkte, daß Kerans den Himmel
betrachtete, rief er: »Schon entdeckt, Doktor? Keine Ablenkung, für eine
erfolgreiche Suche muß man hundertprozentig bei der Sache sein, sonst nützt es
gar nichts.«
    Kerans sah schuldbewußt wieder auf
die ihm entgegenkommende Landschaft hinunter – die riesigen Häuser an der
Zentrallagune kreisten um seinen Ausguck. Hardmans Verschwinden war von einem
Sanitäter um acht Uhr bemerkt worden; das Bett griff sich aber bereits kalt an,
und man nahm als sicher an, daß er gleich nach halb zehn Uhr abends
aufgebrochen war, nachdem zum letztenmal jemand bei ihm im Krankenzimmer
gewesen war. Von den kleinen Booten fehlte keines, aber es war durchaus
möglich, daß Hardman ein paar leere Öltonnen auf dem C-Deck zusammengehängt und
lautlos ins Wasser gerollt hatte. So ein primitives Fahrzeug ließ sich gut
paddeln und verschaffte ihm bis Tagesanbruch einen Vorsprung von fünfzehn
Kilometern, mitten im völlig undurchschaubaren, von verfallenen Gebäuden dicht
bestandenen Lagunengebiet.
    Kerans hatte keine Gelegenheit mehr
gehabt, mit Bodkin zu sprechen, und konnte daher nur seine eigenen Vermutungen
über Hardmans Fluchtgründe anstellen. Ob es Teil eines größeren Plans war oder
einfach eine sinnlose Reaktion auf die Nachricht, daß man nach Norden aufbrechen
würde? Seine ursprüngliche Erregung hatte sich gelegt, er fühlte sich
merkwürdig erleichtert, als ob Hardmans Verschwinden alle Spannung gelöst
hätte. Eines stand aber fest: heimliches Zurückbleiben würde jetzt noch
schwieriger sein.
    Riggs löste seine Gurte und streckte
sich erleichtert.
    »So eine Suche ist im Grunde Unsinn«,
schrie er zu Kerans hinüber. »Landen wir lieber irgendwo und schauen wir uns
die Karte gründlich an. Vielleicht haben Sie eine Idee, wohin es ihn gezogen
haben könnte.«
    Sie waren jetzt zirka fünfzehn
Kilometer nördlich der Zentrallagunen, der Nebelschleier am Horizont ließ die
Hochhäuser fast nicht mehr erkennen. Knapp hinter ihnen fuhr eines der
Motorboote in einen offenen Kanal. Durch die Häuserkonzentration im Süden war
hier weniger

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