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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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Abreise kalt.
Bodkins Überlegungen, wie verschleiert sie auch sein mochten, und seine neue
Psychologie der Neuronik erklärte ihm die Metamorphose in seinem eigenen Denken
besser als jede andere Theorie. Die stillschweigende Annahme bei den Vereinten
Nationen, daß sich im Bereich der Pole das Leben weiterhin in denselben
gesellschaftlichen und familiären Bahnen bewegen würde, stimmte offensichtlich
nicht; das würde sich zeigen, sobald die steigende Flutwelle und die hohen
Temperaturen in Polnähe kamen. Wichtiger als das Kartographieren von Häfen und
Lagunen an den Rändern der noch betretbaren Welt war es, die geisterhaften
Deltas und leuchtenden Buchten der versunkenen Kontinente aufzuzeichnen.
    »Alan«, fragte er über die Schulter,
während er Riggs weiter beobachtete, »warum schreiben Sie das nicht nach Camp
Byrd? Sie sollten das alles weitergeben. Es könnte ja immerhin sein ...«
    Bodkin war schon draußen. Kerans
hörte ihn langsam über die Treppe zu seiner Kabine hinaufgehen, ein müder,
weiser alter Mann, zu weise und zu alt, um sich noch dafür zu interessieren, ob
man seine Warnungen beachtete oder nicht.
    Kerans setzte sich an seinen
Schreibtisch. Er zog den Kompaß aus der Jackentasche, legte ihn auf die
Tischplatte und umfaßte ihn mit beiden Händen. Die leisen Geräusche um ihn
bildeten einen angenehmen Hintergrund für seine Gedanken; die Hampelei des
Äffchens, das Ticken einer Tonbandspule, das kratzende Drehen eines Gerätes,
mit dem der Fototropismus eines Schlinggewächses gemessen wurde ...
    Er studierte den Kompaß ziemlich
gedankenlos, drehte ihn und pegelte die Magnetnadel ein. Warum er ihn wohl
mitgenommen hatte? Er gehörte zu einem Wasserfahrzeug, und sein Fehlen würde
bald auffallen.
    Er spielte weiter mit dem Ding,
drehte es zu sich herum und sah plötzlich gespannt den Buchstaben S an, auf den
die Nadel jetzt zeigte. Ein merkwürdiges, zwingendes Bild verkörperte dieses S
plötzlich für ihn, den Süden mit all seinem verborgenen Zauber und
seiner Anziehungskraft. Und dieser Zauber, diese Kraft gingen von diesem
Messingding aus, das er in seinen Händen hielt, als wäre es eine Schale, der
betäubende Düfte eines heiligen Grals entströmten.

4
     
     
    Am nächsten Tag verschwand Hardman –
aus Gründen, die Kerans erst viel später begreifen sollte.
    Nach tiefem, traumlosem Schlaf erhob
sich Kerans zeitig, frühstückte gegen sieben Uhr und verbrachte dann eine
Stunde im Liegestuhl auf dem Balkon. Sein schwarzbraun gebrannter Körper stach
auffällig von der kurzen weißen Hose ab, dem einzigen Kleidungsstück, das er um
diese Tageszeit noch ertragen konnte. Der Himmel war wie marmoriert, in
grellsten Farben, die schwarze Schale der Lagune, bewegungslos und von
unauslotbarer Tiefe, hob sich deutlich davon ab. Die baumbedeckten Gebäude an
ihrem Rand sahen uralt aus, wie von der Erde in wildem Ausbruch ausgeworfen.
    Im Vorübergehen strich Kerans über
den Messingkompaß, der ihm im dunklen Zimmer von der Schreibtischplatte
entgegenleuchtete, und zog dann im Schlafzimmer seine sandfarbene
Drillichuniform über – eine kleine Konzession an Riggs Abreisevorbereitungen.
Die italienische Sportkleidung war jetzt kaum noch am Platz, und es würde Riggs
nur Verdacht schöpfen lassen, wenn er im pastellfarbenen Komplet
hereinspazierte, das geradezu nach Ritz roch.
    Obwohl er die Möglichkeit,
zurückzubleiben, durchaus einkalkulierte, war er merkwürdig unlustig,
irgendwelche systematischen Vorbereitungen dafür zu treffen. Abgesehen von den
Treibstoff- und Nahrungsmittelvorräten, die ihm Riggs in den letzten Monaten
überreichlich hatte zukommen lassen, brauchte er ja noch jede Menge Ersatzteile
und dergleichen, von einem neuen Uhrglas bis zu neuen Drähten für die
Beleuchtung seines Apartments. Sobald das Hauptquartier und die Werkstätte weg
waren, würde ihn eine Flut lästiger Kleinigkeiten überkommen, die dann kein
Techniker im Handumdrehen beheben könnte.
    Aus praktischen Erwägungen – um sich
das viele Hin- und Herfahren zu ersparen – hatte Kerans Vorräte für einen Monat
auf Lager – alles in Dosen; hauptsächlich Milch und Fleisch, beides allerdings
fast ungenießbar ohne Hilfe der Delikatessen, die Beatrice in ihrer
Tiefkühltruhe aufbewahrte. Mit den Filetscheiben und Gänseleberpasteten in Beas
»Zaubertruhe« hoffte Kerans mit ihr weiterleben zu können – aber selbst diese
Vorräte würden höchstens für drei Monate ausreichen. Dann mußten sie sich

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