Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
Vom Netzwerk:
nach zehn Uhr vormittags überhaupt noch zu
verlassen. Bis vier Uhr waren Lagune und Dschungel wie von Feuer erfüllt;
danach war er meist so müde, daß er nur noch schlafen wollte.
    Den ganzen Tag saß er hinter
geschlossenen Fensterläden und horchte auf die leisen Geräusche – das Ausdehnen
der Drahtgitter in der Wärme, das Zusammenziehen beim Kühlerwerden. Viele
Gebäude waren bereits von Pflanzen völlig überwuchert, Moose und
Schlingpflanzen überdeckten die Mauern und gaben den Echsen in den leeren
Fensterhöhlen Schatten.
    Jenseits der Lagune hatte sich der
Treibsand zu endlosen, glitzernden Bänken aufgeschichtet, die vielfach hoch
über das Ufer ragten. Das Licht trommelte auf sein Gehirn, rührte an die
tiefsten Schichten seines Unterbewußtseins und führte ihn in warme, leuchtende
Tiefen, in denen es weder Zeit noch Raum gab. Mit Hilfe seiner Träume wanderte
er durch die Vergangenheit, in immer fremdere Landschaften, deren jede, wie
Bodkin behauptete, eine seiner menschlichen Vorstufen darzustellen schien.
Manchmal schien das Wasser zu schimmern und zu vibrieren, oft lag es schmierig
und schlaff vor ihm, das Ufer schuppig wie die metallische Haut eines Reptils.
Und dann lockte wieder der weiche Sandstrand rosig glitzernd, der Himmel
leuchtete warm und sanft, und der Anblick der riesigen, leeren Sandflächen erfüllte
ihn mit einem unbeschreiblichen, zärtlich-sanften Angstgefühl.
    Er sehnte sich nach dem Abstieg durch
die archäopsychische Zeit, wollte ihren Endpunkt erreichen, wollte sich aber
seines Wissens nicht bewußt sein, daß an diesem Punkt die Welt um ihn fremd und
unerträglich werden würde.
    Manchmal machte er ein paar
Eintragungen über neue biologische Formen und suchte während der ersten Wochen
mehrmals Bodkin und Bea auf. Beide waren jedoch hauptsächlich mit ihrer eigenen
Wanderung durch die Vergangenheit beschäftigt. Bodkin gab sich ganz seinen
Träumen hin, er fuhr mit dem Boot ziellos durch die schmalen Wasserläufe und
suchte die versunkene Welt seiner Kindheit. Einmal traf ihn Kerans, wie er
geistesabwesend vom Bug seines kleinen Metallbootes auf die noch stehenden
Gebäude starrte. Er hatte einfach durch ihn hindurchgesehen, seinen Gruß gar
nicht gehört.
    Mit Beatrice verband ihn noch mehr,
trotz der äußerlichen Entfremdung waren sie sich beide des Gemeinsamen zwischen
ihnen bewußt, ihrer symbolischen Rollen in diesem Spiel.
     
    Erneut flammten Signalraketen auf,
diesmal weit draußen bei der versunkenen Station und Beatrices Wohnblock. Kurz
darauf ertönten aus der entgegengesetzten Richtung jenseits der südlichen
Sandbänke Antwortdetonationen, schwache, schnell verpuffende Explosionen.
    Der Flieger war also nicht allein.
Angesichts dieser drohenden Invasion riß sich Kerans zusammen. Offensichtlich
kamen sogar mehrere Gruppen nach, und das Flugzeug war nur Vorbote.
    Kerans machte die Tür wieder zu, zog
sich seine Jacke an, ging aus alter Gewohnheit ins Badezimmer vor den Spiegel
und befühlte geistesabwesend die Stoppeln in seinem Gesicht. Eine Woche lang
hatte er sich schon nicht rasiert. Seine Haare waren schneeweiß, die Haut fast
schwarz, dazu der nach innen gerichtete Blick – ein eleganter Nichtstuer. Von
der kaputten Destillieranlage auf dem Dach war ein Eimer voll Wasser
heruntergelaufen. Er schöpfte etwas davon heraus und bespritzte sich das
Gesicht, ein Akt der Sauberkeit, den er nur noch aus Gewohnheit und ohne großen
Erfolg ausübte.
    Mit dem Bootshaken vertrieb er die
Leguane von der Anlegestelle, ließ seinen Katamaran ins Wasser und warf den
Motor an. Riesige Algenklumpen schwankten unter dem Fahrzeug hin und her, Käfer
und Spinnen sausten um die Seitenwände.
    Es war gerade sieben Uhr, die
Temperatur noch erträglich – kaum dreißig Grad, kühl und angenehm, keine
Moskitoschwärme in der Luft, die später durch die Hitze aus ihren Ruheplätzen
aufgestört würden.
    Während er die hundert Meter zur
südlichen Lagune durch den Kanal lavierte, explodierten weitere Raketen über
ihm, und er hörte und sah das Flugzeug auf und ab sausen. Am Beginn der Lagune
stellte er den Motor ab und glitt unter die überhängenden Farnwedel.
Wasserschlangen wurden durch die Wellen von den Zweigen gespült, er mußte
aufpassen, daß sie ihm nicht ins Boot glitten.
    Nach fünfundzwanzig Metern zog er das
Boot zwischen den Riesenwedeln, die auf dem Schrägdach eines Warenhauses
wuchsen, an ›Land‹, watete bergauf zu einer Feuerleiter am Nebengebäude

Weitere Kostenlose Bücher