Karneval der Toten
»Damit ich das jetzt richtig verstehe. Sie fanden heraus, dass diese Tote eine Bekannte von Scotts Ehefrau Mary ist – war -, behauptet jedenfalls der Ehemann?«
»Declan Scott. Der, von dem ich Ihnen erzählt habe. Man fragt sich, wie der mit den vielen Erinnerungen überhaupt dort leben kann.« Als wüsste er, wann es aber wirklich reichte, wandte Macalvie den Blick ab. »Er will wohl an früher erinnert werden.«
»Kann man sich das denn aussuchen?«
Aus dem Nebenzimmer war das Klacken von Billardkugeln zu hören. Der Barmann stellte Jury sein Bier hin.
»Wahrscheinlich nicht. Aber zehren manche Menschen denn nicht davon?«, fragte Macalvie.
Vielleicht, dachte Jury, gehörte Macalvie auch zu ihnen. »Kann sein. Das ist also der Mann, mit dem ich reden soll?«
»Ganz recht.«
»Sagten Sie nicht, Sie sehen ihn irgendwie nicht als potentiellen Täter in diesem Mordfall?«
Macalvie schüttelte den Kopf. »So ist es. Ich glaube nicht, dass er es getan hat, kann es aber nicht durch Beweise erhärten. Ein Alibi hat er jedenfalls nicht. Er war allein im Bett und schlief.«
»Aber Sie glauben, dass dieser Fall in Zusammenhang steht mit dem Verschwinden der kleinen – Flora?« Jury trank sein Bier in der Hoffnung, davon satt zu werden.
Macalvie nickte und starrte auf die über der Bar aufgereihten Spirituosen. Offenbar nahm ihn die bloße Erwähnung dieses Namens mit. Als Macalvie nicht weitersprach, half Jury ihm auf die Sprünge. »Sie war vier? Oder fünf?«
»Vier.« Macalvie räusperte sich.
Eine knappe Antwort, als ob sich diese düstere Szenerie mit Knappheit zumindest teilweise übertünchen ließe. Wieder half Jury ihm weiter. »Sie wurde von irgendwo ganz in der Nähe dieser Kristallgrotte verschleppt. Korrekt?« Jury versuchte, eine Reaktion aus ihm herauszulocken, etwas, was er nur selten tun musste.
Macalvies Blick ruhte inzwischen auf den Ringen, die sein feuchtes Glas auf dem alten Bartresen hinterließ. Er nahm einen Bierdeckel, auf dem für Johnnie Walker Black geworben wurde, und schob ihn behutsam unter das Glas. »Flora...« Erneut musste Macalvie sich räuspern. »Flora und ihre Mutter gingen gern dort spazieren. An diesem bestimmten Tag – er war auch nicht anders als sonst – fiel Flora auf dem Spaziergang plötzlich ein wenig hinter ihrer Mutter zurück. Die war nur kurz zu ein paar neuseeländischen Pflanzen hinübergegangen, als sie plötzlich merkte, dass Flora nicht in ihrer Nähe war. Sie geriet jedoch nicht in Panik. Das Mädchen fand sich im Park recht gut zurecht, und die Mutter war es schon gewöhnt, dass Flora unterwegs manchmal stehen blieb, wie sie selbst ja auch. Sie rief nach ihr. Keine Antwort. Sie rief noch ein paarmal und ging dabei den gleichen Weg noch einmal ab – immer noch keine Antwort. Dann machte sie sich Sorgen und bekam Angst. Mittlerweile waren gut zehn Minuten vergangen, und die Parkanlage ist natürlich riesig. Sie hielt Leute an und fragte sie nach einem kleinen Mädchen ohne Begleitung, das aber keiner gesehen hatte. Schließlich wandte sie sich an ein paar Mitarbeiter und schilderte es ihnen, die holten daraufhin jemanden von der Verwaltung, der wiederum sofort die örtliche Polizei verständigte. Bevor die eintraf, begann das Personal zu suchen, sogar einige Besucher hielten Ausschau. Cody kann Ihnen Genaueres von dieser Suche berichten. Das war vor drei Jahren. Er war damals noch Detective Constable.
Es waren eine Menge Touristen unterwegs, was die Suche umso schwieriger gestaltete. Jeder hätte daherkommen können, sehen, dass sie allein war und sie verschleppen können.«
»Sie hätte sich doch gewehrt – hätte geschrien oder gekreischt.«
»Wahrscheinlich. Aber wie oft haben Sie schon eine Mutter oder einen Vater ein weinendes, schreiendes Kind hinter sich herzerren sehen? Als Sie das letzte Mal im Supermarkt waren vielleicht? Mum guckt mit starrem Blick vor sich hin, während Daddy vielleicht versucht, dem Kind gut zuzureden, das aber unbeirrt weiterbrüllt? Ich sehe schon, die Theorie gefällt Ihnen nicht.«
Jury hatte unentwegt den Kopf geschüttelt. »Es muss etwas geben, was diesen Fall von solchen Beispielen deutlich unterscheidet. Flora hätte doch bestimmt um Hilfe gerufen. Ich will damit nicht sagen, dass es unmöglich ist, ein Kind zu schnappen. Aber wahrscheinlicher ist, dass sie betäubt wurde, mit Chloroform vielleicht. Und dann wurde ihr irgendetwas übergeworfen – ein Mantel, ein Umhängetuch. Und dann hat man sie wohl
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