Karparthianer 01 Mein dunkler Prinz
irgendjemand aus der Ferne jeden ihrer Schritte verfolgte.
»Mikhail«, flüsterte Eric, als er ihm die Treppe hinaufhalf,
»lass mich dir helfen.«
Raven stand an der Tür und blickte in Mikhails blasses Gesicht. Er wirkte plötzlich viel älter als die dreißig Jahre, auf die sie ihn geschätzt hatte. Mochten seine Züge auch gequält wirken, innerlich schien er ganz entspannt zu sein und atmete ruhig und gleichmäßig. Sie ging den Männern schweigend aus dem Weg und ließ sie eintreten.
Es verletzte sie, dass Mikhail ihre Hilfe abgewiesen hatte.
Da er offensichtlich die Gesellschaft seiner eigenen Leute vorzog, würde sie sich bestimmt nicht anmerken lassen, dass es ihr etwas ausmachte. Raven presste die Lippen zusammen und betrachtete Mikhail ängstlich. Sie musste sich einfach davon überzeugen, dass er wieder gesund werden würde.
Die Männer trugen Mikhail hinunter in sein Schlafzimmer, und Raven folgte ihnen. »Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Instinktiv spürte 178
sie, dass sie Mikhails Leuten nur im Weg war. Sie ahnte, dass sie ihn nicht behandeln würden, ehe sie das Zimmer verlassen hatte.
»Nein, Kleines.« Mikhail streckte die Hand nach ihr aus.
Sie ging zu ihm und umfasste seine Finger. Normalerweise war er so stark und durchtrainiert, doch jetzt wirkte er schwach und angestrengt. Raven war den Tränen nahe. »Du brauchst Hilfe, Mikhail. Sag mir, was ich tun soll.«
Mikhails kühler, undurchdringlicher Blick erwärmte sich, als er Raven in die Augen sah. »Sie wissen schon, was zu tun ist. Dies ist weder meine erste noch meine schwerste Verletzung.«
Raven lächelte bitter. »Das waren also die dringenden Geschäfte, denen du nachgehen musstest?«
»Du weißt, dass ich nach den Mördern meiner Schwester suche.« Seine Stimme klang leise und erschöpft.
Zwar gefiel es Raven gar nicht, mit ihm zu streiten, doch einige Dinge mussten einfach gesagt werden. »Du hast mir versichert, dass es nicht gefährlich werden würde. Es war nicht nötig, mich zu belügen. Ich weiß, du bist in dieser Gegend der große Oberboss, doch in diesem Fall verfüge ich über mehr Erfahrung als du. Ich habe schon viele Mörder aufgespürt. Wir wollten doch Partner sein, Mikhail.«
Byron, Eric und Jacques sahen einander verblüfft an.
Byron formte stumm das Wort Oberboss mit den Lippen.
Niemand wagte zu lächeln, nicht einmal Jacques.
Mikhail wusste, dass er Raven verletzt hatte. »Ich habe dich nicht absichtlich belogen. Eigentlich wollte ich nur einige Nachforschungen anstellen. Aber unglücklicherweise geriet die Sache außer Kontrolle. Glaube mir, ich hatte nicht die Absicht, mich verwunden zu lassen. Es war ein Unfall.«
»Du hast ein echtes Talent dafür, in Schwierigkeiten zu geraten, wenn ich nicht bei dir bin.« Raven lächelte zwar, doch ihre Augen blieben sorgenvoll. »Wie schlimm ist die 179
Verletzung?«
»Nichts als ein kleiner Kratzer. Mach dir keine Sorgen.«
Mikhail fühlte sich unbehaglich. Raven hatte wieder den Gesichtsausdruck, der ihm zeigte, dass sie zu viel grübelte.
Darum konnte er sich jetzt nicht auch noch kümmern, zumal er verwundet war und bei nächster Gelegenheit die heilende Erde aufsuchen musste. Doch er wollte auch vermeiden, dass sich Raven von ihm zurückzog. Es machte ihm Sorgen, dass sie so in sich gekehrt war. Zwar wusste er, dass es ihr nicht möglich war, ihn zu verlassen, doch er wollte auch nicht, dass sie sich wünschte, von ihm fortzugehen.
»Du bist verärgert.« Es war eine Feststellung.
Raven schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht. Nur enttäuscht von dir.« Sie sah traurig aus. »Du sagtest, dass es zwischen uns keine Unaufrichtigkeit geben könne, und doch hast du mich bei erster Gelegenheit belogen.« Sie presste die Lippen zusammen und blinzelte ungeduldig, um die Tränen zurückzudrängen. »Du verlangst so viel Vertrauen von mir, Mikhail, da wäre es besser gewesen, wenn du auch mir vertraut hättest. Du solltest schon etwas mehr Respekt für mich und meine Fähigkeiten aufbringen. Ich kann telepathische Spuren verfolgen, indem ich sozusagen durch die Augen eines anderen Menschen sehe. Einige Angehörige deines Volkes sind überaus nachlässig und selbstzufrieden. Manche bemühen sich nicht einmal, ihre Gedanken abzuschirmen. Ihr alle seid so arrogant, dass ihr nicht einmal die Möglichkeit in Betracht zieht, dass es vielleicht einem Menschen gelingen könnte, in eure Gedanken einzudringen.
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