Karparthianer 01 Mein dunkler Prinz
sich davon nicht zu Grunde richten lassen.
Pater Hummer verließ seinen Sessel und half Raven auf die Beine. »Genug, Raven. Lassen Sie uns nach draußen gehen und in meinem Garten arbeiten. Wenn Sie erst die Erde unter Ihren Händen spüren und frische Luft atmen, wird es Ihnen gleich besser gehen.« Falls ihr das nicht half, konnte er nur noch auf die Knie fallen und für sie beten.
Raven lachte leise. »Wenn Sie mich berühren, Pater, kann ich Ihre Gedanken lesen. Darf ein Priester es denn verabscheuen niederzuknien ?«
Blitzschnell ließ er sie schnell los, stimmte dann aber in ihr Lachen ein. »In meinem Alter und mit meiner Arthritis ist mir eher danach zu fluchen, wenn ich mich hinknie. Nun haben Sie mein dunkelstes Geheimnis aufgedeckt.«
Lachend traten sie hinaus in die Morgensonne. Raven blinzelte. Ihr tränten die Augen, und sie schloss sie schnell, als ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf fuhr. Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Die Sonne ist so grell! Ich 211
kann kaum etwas sehen, und es tut weh, wenn ich die Augen öffne. Macht Ihnen das Licht nichts aus ?«
»Ich glaube, Mikhail hat neulich seine Sonnenbrille hier gelassen. Er neigt zur Vergesslichkeit, wenn er eine Schachpartie verliert.«
Pater Hummer kramte drinnen in einer Schublade und förderte eine dunkle Brille zu Tage, die speziell für Mikhail angefertigt worden war. Das Gestell war viel zu groß für Ravens schmales Gesicht, doch Pater Hummer befestigte es mit einem Band. Langsam öffnete Raven die Augen und stellte erleichtert fest, dass die dunklen Gläser ihren Augen Linderung verschafften.
»Diese Brille ist großartig. Woher stammt sie?«
»Ein Freund von Mikhail stellt sie her.«
Pater Hummers Garten war wunderschön. Raven ließ sich zu Boden sinken und tauchte ihre Hände tief in die dunkle, fruchtbare Erde. Schon schien sie etwas leichter zu atmen und verspürte plötzlich den Wunsch, sich der Länge nach auf dem weichen Blumenbeet auszustrecken und die Erde an ihrem Körper zu spüren.
Der Garten half Raven, die langen Morgenstunden zu überstehen. Gegen Mittag musste sie jedoch im Haus Schutz suchen. Trotz der dunklen Brille ließ die starke Mit-tagssonne Ravens Augen tränen und brennen. Auch ihre Haut schien plötzlich ungewöhnlich sensibel zu sein und rötete sich nach wenigen Minuten, obwohl Raven vorher noch nie einen Sonnenbrand gehabt hatte.
Pater Hummer begleitete sie ins Haus, und sie brachten sogar zwei Partien Schach zu Stande, von denen sie jedoch eine unterbrechen mussten, während Raven einmal mehr mit der tiefen Verzweiflung rang. Sie war dankbar für Pater Hummers Gegenwart und bezweifelte, dass sie ohne ihn die Trennung von Mikhail überlebt hätte. Immer wieder trank sie Kräutertee, da sie keine Nahrung zu sich nehmen konnte.
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Der Nachmittag schien endlos zu sein, doch es gelang Raven, die Stunden ohne weitere Weinkrämpfe zu überstehen. Gegen fünf Uhr war sie zu Tode erschöpft und beschloss, die verbleibende Zeit allein zu verbringen. Mikhail würde sie in zwei oder drei Stunden abholen, und wenn sie sich ihre Unabhängigkeit und Selbstachtung bewahren wollte, musste sie bis dahin allein zurechtkommen.
Obwohl die Sonne bereits sank und sich Wolken am Horizont aufzutürmen begannen, schmerzte das Licht Raven noch immer. Ohne die Sonnenbrille wäre sie nicht in der Lage gewesen, überhaupt zum Gasthof zurückzugehen.
Glücklicherweise war das Haus still. Mrs. Galvenstein und ihre Angestellten bereiteten das Abendessen vor und deckten die Tische im Speiseraum. Unbemerkt schlich sich Raven in ihr Zimmer.
Sie duschte ausgiebig und hoffte, das heiße Wasser könnte die schreckliche Kälte in ihrem Innern vertreiben. Dann bändigte sie ihr feuchtes schwarzes Haar in einem langen, geflochtenen Zopf und legte sich nackt aufs Bett. Ein kühler Luftzug strich über ihre warme Haut und beruhigte sie ein wenig. Raven schloss die Augen.
Sie nahm das leise Klirren von Porzellan im Speiseraum wahr. Unwillkürlich konzentrierte sie sich auf die Geräusche. Vielleicht konnte sie sich ablenken, indem sie sich mit dieser neuen Fähigkeit beschäftigte. Raven stellte fest, dass sie die Geräusche mühelos ausblenden oder isolieren konnte. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sogar das Sum-men der Insekten in der Speisekammer hören.
Die Köchin und eines der Dienstmädchen stritten sich kurz über die Aufgabenverteilung, und Mrs. Galvenstein summte eine Melodie bei der Arbeit, traf jedoch nur
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