Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
es dann am Morgen des 23. Mai zu Fuß weitergehen.
Die Zeit bis zu unserer Abreise genoss ich sehr. Ich fühlte mich frei, unabhängig und ohne jegliche Verantwortung, außer der, die ich für mich hatte. Am Anfang fiel mir das Loslassen noch schwer. Mich plagte mein schlechtes Gewissen, wenn ich ausschlief, wenn ich mitten am Tag mit Larina oder Susanne im Café saß oder einfach nur faul die ersten Frühlingsstrahlen auf meinem Balkon auskostete, Aber dann bekam ich zunehmend mehr emotionalen Abstand zu meinem alten beruflichen Alltag. Ich brauchte keine dringenden Telefonate mehr zu führen, musste keine Entscheidungen von jetzt auf gleich treffen. Da waren keine zwei, drei oder mehr Menschen, die alle gleichzeitig etwas von mir wollten. Ich musste nicht mehr verantworten, ob wir noch mal kurzfristig Kleider produzieren sollten, weil das Wetter sich so toll entwickelte. Store-Checking war ab sofort ein Fremdwort für mich: Ich konnte in der Stadt bummeln gehen, ohne dass ich mit Argusaugen beobachtete, was unsere Mitbewerber denn gerade neu an den Handel ausgeliefert hatten. Ich fühlte mich befreit. Ich wollte aufbrechen und nicht zurückschauen. Ich hatte losgelassen, wollte mich neu einlassen und mich dem Fluss des Lebens überlassen. Die Gegenwart zu genießen, die Zukunft nicht wie sonst zu planen, das wollte ich von ganzem Herzen versuchen. Etwas Neues, Schönes, Wunderbares würde vor mir liegen, nicht nur auf dem alten Pilgerpfad, sondern auch in meinem zukünftigen Leben, dessen war ich mir ganz sicher!
Den letzten Abend feierten wir mit Freunden - Susanne und ihrem Mann Chester sowie Larina mit ihrem Mann Nico - in meinen Geburtstag hinein und nahmen Abschied. Es ist schon ein wenig komisch, dass alle ganz sentimental werden, wenn man längere Zeit unterwegs ist und nicht den üblichen zwei- oder dreiwöchigen Urlaub antritt. Es war eine lustige, witzige, aber doch leise Atmosphäre an diesem Abend. Um Mitternacht wurde nicht nur ich beschenkt. Gu hatte für uns alle Engelkarten ausgewählt. Sie enthielten einen kleinen geschnitzten und glatt polierten Engel mit einem zum Holz passenden Text. Jeder hatte einen anderen Engel. Man spürte förmlich, wie Gu sich vorher mit jedem Einzelnen von uns auseinandergesetzt hatte, um genau den richtigen Engel auszuwählen. Ich bekam den Engel der Klarheit, geschnitzt aus Lindenholz. Er soll mich daran erinnern, in meinem Leben für klare Linien zu sorgen. Er soll mich begleiten, um Zeiten der Stille für mich zu finden, denn sie wiederum sorgen für Klarheit. Auch der weitere Text sprach mich an und es war klar, der Engel würde mich auf der Reise begleiten, ebenso wie das kleine Holzkreuz und das Miniatur-Marienbild aus Kupfer, das ich darüber hinaus als Schutzbegleiter geschenkt bekam. So viel Weiteres wanderte in dieser Nacht noch in meinen Rucksack: Wunderschöne Karten mit liebvollen Worten meiner Freunde, ein Glückskäfer von meiner Schwester Sigrid, ein Tagebuch von meinem Bruder Bernd und seiner Frau Claudia mit vielen fürsorglichen und innigen Wünsche für mich. Mit all diesen guten Wünschen und Gedanken konnte die Reise nur unter einem besonderen Stern stehen.
Ich selbst hatte mir auf einer Postkarte meinen ganz persönlichen Reisewunsch niedergeschrieben. Meister Eckhart, einer der bedeutendsten Theologen und Mystiker der katholischen Kirche, hatte mich dazu mit einem seiner Gedanken inspiriert:
»Die Welt von innen zu betrachten, sich von innen bewegen zu lassen, führt zum eigenen Lebensweg!« »Was ist mein Leben?« »Was von innen her, aus sich selbst bewegt wird. Das aber lebt nicht, was von außen bewegt wird.« Ich selbst hatte noch hinzugefügt: »Geh deinen Weg! Sabine!«
Die Postkarte zeigt als Motiv das Kreuz von San Damiano in Assisi, dort hatte Gott zum heiligen Franziskus gesprochen. Ich hatte sie aus der kleinen Kapuziner-Klosterkirche in meiner Nachbarschaft mitgebracht. Mein Wunsch, ja fast schon Appell, an mich und das wunderschöne Kreuz sowie der Gedanke an Franziskus und sein Leben passten für mich einfach wunderbar zusammen. Während der Reise hatte ich die Karte oft in der Hand. Auch wenn ich die Worte im Herzen trug, an den Farben, der Gestaltung des Kreuzes, am Gesicht Jesu konnte ich mich nie genug satt sehen.
II. Auf dem Jakobsweg
Sonntag, 21. Mai 2006
Münster - Clermont-Ferrand
Nach einem kurzen Frühstück fuhren wir endlich los! Wir hatten uns kein festes Etappenziel für den Abend vorgenommen, wir
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