Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
würden wir zu Fuß Weiterreisen. Je näher wir den Pyrenäen kamen, desto mehr leuchtete der Ginster rechts und links der Straßen. Das kräftige Gelb kontrastierte wunderbar mit dem satten Grün der Wiesen. Die Bäume standen teilweise noch in Blüte. Der Frühling verschwendete seine ganze Pracht. Wir strahlten uns beide an, die Natur würde von nun an unser ständiger Begleiter sein. Wir hofften beide auf gutes Wetter, auch wenn wir in unserer Ausrüstung Regen und Kälte berücksichtigt hatten.
Am späten Nachmittag trafen wir endlich in St. Jean-Pied-de-Port ein. Zunächst suchten wir einen Parkplatz, der möglichst sicher, öffentlich, ohne Gebühren sowie ohne zeitliche Begrenzung war. Kein leichtes Unterfangen, aber schließlich hatten wir Glück. Er lag sogar ziemlich nah an der Altstadt, sodass wir unsere Rucksäcke bis zum Pilgerbüro nicht sehr weit tragen mussten. Welche Ironie, über diese wirklich kurze Strecke war ich heilfroh. Was sollte nur werden, wenn ich mehr als diese tausend Meter wandern würde? Es war ein ganz neues Gefühl für mich, für die nächsten Wochen mein gesamtes Hab und Gut für die Reise auf meinem Rücken zu tragen. Mein Rucksack, neben Gu, mein wichtigster Gefährte. Fluch und Segen zugleich sollte er für mich in vielen Situationen und für die gesamte Reise sein.
Im Pilgerbüro angekommen ließen wir uns den ersten Stempel unserer Wanderung geben. Die Credencial del Peregrino, den Pilgerausweis, hatte ich uns schon in Deutschland bei der St. Jakobsbruderschaft in Trier besorgt. Die Credencial ist sehr schön gestaltet. Die Vorderseite zeigt eine Tür, an der ein Pilgerstab mit Jakobsmuschel und Kalebasse gelehnt steht. Die Rückseite wird von der Kathedrale in Santiago, dem Grab des heiligen Jakobus sowie von Grußworten, unter anderem von Papst Johannes Paul II., geziert. Entfaltet man den Ausweis, sind auf der einen Seite insgesamt vierzig freie Stempelfelder zu finden, die allesamt darauf warten, mit schlichten oder kunstvollen, großen oder kleinen, eindrucksvollen und unterschiedlich farbigen Stempeln geschmückt zu werden. Daneben befindet sich ein Feld mit den offiziellen Daten zur Person. Auf der anderen Seite der Faltkarte sind alle Jakobswege Europas aufgeführt. Der Camino Francés, den Weg, den wir gehen würden, der Camino del Norte, der Camino Portugues sowie die Via de la Plata, alle in Spanien beziehungsweise in Portugal gelegen, sind noch mal gesondert dargestellt. Wenn man diese Karten betrachtet, wird man ganz ehrfürchtig und begreift, wie alt die Pilgerbewegung ist. Neben meinen Erinnerungen ist die Credencial eines meiner schönsten Andenken. Wir waren auch in das Pilgerbüro gegangen, um uns einen Tipp für die Unterkunft geben zu lassen und uns eine Muschel für die Reise auszusuchen. Gegen eine Spende wählten Gu und ich zwei gleich große Exemplare aus, die sonst sehr unterschiedlich waren. Seine Jakobsmuschel war in der charakteristischen in sich gewölbten Form und war eher von hellerer Farbe mit wenigen leicht bräunlichen Färbungen, sie wirkte robust und beständig. Sie passte zu Gu. Ich wählte eine zwar von der Art her typische Muschel, die Wölbung fehlte aber, sie war ganz flach. Darüber hinaus war sie sehr stark rot geädert und stach mir dadurch sofort ins Auge. Ich liebe die Farbe rot. Meine Muschel unterschied sich außerdem, weil sie filigran und dennoch zäh wirkte, das gefiel mir.
Unser Quartier für die Nacht war bei einer netten, aber sehr geschäftstüchtigen Witwe, die in ihrem Haus allein lebte und ihren Dachboden an Pilger untervermietete. Für vergleichsweise teure fünfzehn Euro pro Person hatten wir von Madame eine kleine separate Kammer mit zwei Liegen, die schon bessere Tage gesehen hatten, zugewiesen bekommen. Die anderen Pilger, sechs an der Zahl, lagen im Vorraum an der Treppe. Im Vergleich dazu empfanden wir unser Separee als Luxus. Die Waschgelegenheit, die Dusche und die Toilette waren nachträglich draußen auf der Terrasse angebaut worden. Es war hellhörig, aber dafür geruchsneutral, ein Vorteil für die beiden anderen Pilger, die dort ihr Abendessen zu sich nahmen. Wir zogen es unter diesen Umständen vor, auf das Duschen zu verzichten und in einem Restaurant zu essen, auch weil die Kälte gegen Abend wieder zugenommen hatte. Wir fanden ein kleines, gemütliches Bistro, in dem wir unser erstes Pilgermenue bekamen. Es war eines der besseren. Um uns herum waren neben wenigen Einheimischen auch einige Pilger.
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