Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
meinem Nachtgebet bat ich Gott um Hilfe.
Agés erreichten wir am Nachmittag des nächsten Tages, hinter uns lagen mühevolle 25 km. Nach den Getreidefeldern waren es überwiegend grüne Landschaften gewesen, durch die wir gelaufen waren. Die Montes de Oca mit einem Anstieg auf über 1100 Meter lagen nun hinter uns. Die Gegend hatte uns zunächst sehr bezaubert, dichte Wälder mit Moosen und Farnen sowie blühender Ginster boten Kühle und Schatten. Später aber verlief der Weg über eine sehr breite Schotterschneise, sodass das Gehen unter der sengenden Sonne mühevoll war. Mir rann der Schweiß in Strömen den Körper hinab, auch weil ich am Morgen mehrere Kleiderschichten übereinander angezogen hatte. Ich wagte nicht, nur eine davon zu entfernen, die Worte meiner Eltern klangen mir in den Ohren: »Schwitzen ist die beste Kur für einen von Grippe geschwächten Körper, deshalb pack’ dich immer schön warm ein. Der ganze Rotz kommt dann über die Poren raus.« Gu schleppte sich ebenfalls so dahin, er hatte wieder große Probleme mit seinem Fuß und dem Unterschenkel. Wir machten viele Pausen und wanderten erheblich langsamer als sonst. In Agés wurden wir dafür mit einer kleinen, aber feinen Herberge belohnt, in der es sehr familiär zuging. Die Wirtin überraschte uns Pilger am Abend mit einer selbst gemachten Paella. Den Nachmittag hatten Gu und ich mit faulem Nichtstun verbracht. Unsere Lebensgeister waren nach der heißen Dusche in einem sensationellen Bad - es gab hier ein richtiges Badezimmer, das man während der Nutzung für sich ganz allein hatte - wieder neu erwacht. Meine Eltern hatten Recht gehabt. Die Stunden bis zum Abend flössen träge dahin, Gu und ich genossen sie. Wir redeten wenig, hielten uns an den Händen, schauten in den wolkenlosen Himmel, lauschten dem Wind und waren froh, dass der Nachmittag so langsam verstrich. Der Abschied nahte. Es war, als wenn wir die Zeit anhalten wollten, aber vielleicht tat das auch schon jemand anderes für uns.
12. Pilgertag, 3. Juni 2006
Agés - Burgos
Wir wanderten auf unserer letzten gemeinsamen Etappe sehr langsam. Gu humpelte leise fluchend vor sich hin, er konnte einfach nicht schneller laufen. Sein Schienbein schmerzte wieder sehr stark und jeder Schritt war für ihn eine Qual. Doch wir hatten keine Wahl, Gu musste am nächsten Morgen im Zug sitzen. Er konnte seinen Urlaub nicht verlängern, er wurde von seinen Mitarbeitern zurückerwartet. Als Selbstständiger - Gu betrieb damals noch sein Sportgeschäft für Schnee- und Wassersportarten - hatte er gewisse Freiheiten, aber auch jede Menge Pflichten. Wir versuchten trotzdem das Beste aus der Situation zu machen und uns abzulenken. Atapuerca lag bereits hinter uns. Das kleine Dorf zählt zu den wichtigsten archäologischen Ausgrabungsstätten der Welt, dort wurden 800.000 Jahre alte Knochenreste des »ersten Europäers«, des Homo antecessor, gefunden. Diese Tatsache lasen wir mit Interesse in unserem Reiseführer, aber anschauen wollten wir die Gebeine nicht, wir hatten schon genug mit unseren eigenen zu tun. Nach Atapuerca mussten wir wieder einmal eine Passhöhe erklimmen, in Gu’s Zustand kein Vergnügen. Mir ging es abgesehen von meinem noch verbliebenen Schnupfen und der wunden Nase wieder deutlich besser. Auf der Passhöhe konnten wir in der Ferne schon Burgos sehen. Mittlerweile konnten wir solche Entfernungen gut einschätzen, mindestens fünf Stunden lagen noch vor uns - Gu stöhnte deshalb hörbar auf.
Im nächsten Dorf trafen wir auf Paolo, den italienischen Rasta-Mann. Wir beschlossen, gemeinsam zu frühstücken, zumal die Pause Gu’s Bein guttat. Zum ersten Mal erfuhren wir mehr über Paolo: Er war 25 Jahre jung und verdiente seinen Lebensunterhalt als Pizzabäcker in England, da er dort wesentlich mehr Lohn erhielt als im heimischen Florenz. Für eine gewisse Zeit arbeitete er sehr, sehr hart, oft mehrere Schichten hintereinander, kündigte dann und nahm sich Zeit, um neue Erfahrungen zu sammeln, wie eben auf dem Jakobsweg. Paolo war offen, neugierig, positiv und ging auf andere Menschen zu. Seine sympathische Art hatte uns von Anfang an gefallen. Außerdem war er uns wie auch anderen Pilgern dadurch aufgefallen, dass er extrem langsam lief, fast schon schlenderte. Er war immer einer der letzten Pilger, die abends im Refugio ankamen. Von uns darauf angesprochen entgegnete er: »Ich möchte einfach nichts übersehen. Gerade die kleinen Dinge am Wegesrand sind oft die
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