Kartiks Schicksal
glaube, sie sind verschlüsselte Hinweise.«
Felicity schneidet ein Gesicht. »Auf was?«
Ich seufze. »Ich weiß es nicht. Aber eine davon scheint den Turm des Ostflügels darzustellen. Und ganz vorne im Buch war ein Zimmer, das ich immer wieder in meinen Visionen sehe.«
»Du glaubst also, dieses Zimmer hat einmal zum Ostflügel gehört?«, fragt Felicity.
»Oh.« Ich stoße die Luft aus. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wenn ja, dann ist es längst verschwunden.«
»Na, dann sehn wir’s uns einmal an«, sagt Felicity.
»Das können wir nicht. Miss McChennmine hat das Buch in den Ofen geworfen«, erkläre ich.
Felicity reißt empört den Mund auf. »Wir haben vier Schillinge dafür bezahlt.«
»Ja, ich weiß.«
»Und das heutige Abendessen wird seltsam nach Buch schmecken.« Sie bohrt die Spitze ihres Floretts in den Fußboden und kratzt ein kleines F hinein.
»Da stimmt irgendetwas nicht«, sage ich, während ich mit langen Schritten im Zimmer auf und ab gehe und dabei an meinen Fingernägeln knabbere, eine Gewohnheit, die ich aufgeben sollte und werde. Morgen. »Ich traue Miss McChennmine nicht. Sie verbirgt etwas, davon bin ich überzeugt. Sie hat von Wilhelmina Wyatt in der Vergangenheitsform gesprochen. Was ist, wenn Miss McChennmine weiß, dass Wilhelmina tot ist? Und wenn das der Fall ist, wie kommt es, dass sie es weiß?«
»Dr. Van Ripple hat gesagt, Wilhelmina sei von einer Freundin verraten worden«, fügt Felicity hinzu. »Könnte das Miss McChennmine gewesen sein?«
Ich kaue an meinem Nagel, bis er bis auf die Haut abgenagt ist. Es tut weh und ich bedaure sofort, dass ich es getan habe. »Wir müssen noch einmal mit Dr. Van Ripple sprechen. Vielleicht weiß er etwas mehr darüber. Vielleicht weiß er, wo der Dolch versteckt ist. Was meinst du?«
Ein breites Grinsen geht über Felicitys Gesicht. Sie berührt mit der Florettspitze meine Schultern, als würde sie mich zum Ritter schlagen. »Alle für einen und einer für alle.« Plötzlich verändert sich ihr Gesichtsausdruck. »Warum, glaubst du, hat sie es getan?«
»Miss McChennmine oder Miss Wyatt?«, frage ich.
»Ann.« Felicity stützt sich auf den Griff ihres Floretts. »Die Freiheit war für sie zum Greifen nahe. Warum hat sie sich davon abgewendet?«
»Danach zu verlangen war eine Sache, sie zu ergreifen vielleicht eine andere.«
»Das ist lächerlich.« Mit einem spöttischen Lachen legt sie sich wieder in den Sessel zurück, einen Fuß auf dem Boden, den anderen über der Armlehne.
»Dann weiß ich es auch nicht«, sage ich ein bisschen gereizt.
»Ich werde dem Glück nicht den Rücken zukehren. Das garantiere ich dir.« Felicity sticht mit dem Florett in die Luft. »Gemma?«
»Ja?«, sage ich mit einem schweren Seufzer.
»Was wird mit Pippa geschehen? Als ich mit dem Baum eins war, sah ich …«
»Was hast du gesehen?«
»Ich sah sie lebendig und glücklich. Ich sah uns beide in Paris, an der Seine, der Fluss flimmerte wie ein Traum. Und sie lachte, ganz so wie früher. Wie hätte ich das sehen können, wenn … Denkst du, es könnte wahr sein? Dass sie zurückkommen könnte?«
Felicity dreht ihren Kopf zu mir und ich sehe die Hoffnung in ihren Augen. Ich möchte sagen, Ja, aber etwas tief in meinem Innern sagt Nein. Ich glaube nicht, dass es jemals so sein kann.
»Ich denke, es gibt gewisse Gesetze, die nicht zu brechen sind«, sage ich so schonend wie möglich, »wie sehr man es sich auch wünscht.«
Felicity zieht ihre Klinge durch die Luft. »Du denkst es, oder weißt du’s?«
»Ich weiß, dass ich auf der Stelle meine Mutter zurückbringen würde, wenn es möglich wäre.«
»Warum tust du’s dann nicht?«
»Weil«, sage ich und suche nach den richtigen Worten. »Ich weiß, dass sie tot ist. Genauso wie ich weiß, dass jene Zeit in Indien, als wir alle zusammen waren, für immer vorbei ist und ich sie nicht zurückbringen kann.«
»Aber wenn die Magie sich verändert – wenn alles sich verändert, vielleicht..« Sie bricht ab und ich versuche nicht, sie eines Besseren zu belehren. Manchmal genügt die Kraft von einem Vielleicht, um uns aufrecht zu halten, und die werde ich ihr nicht nehmen.
Ich höre Brigid im Flur falsch vor sich hin trällern und das bringt mich auf eine Idee. »Fee, wenn jemand über eine bestimmte Hausbewohnerin etwas wissen möchte, eine ehemalige Schülerin zum Beispiel, wohin würde er sich wenden, um eine verlässliche Auskunft zu erhalten?«
Felicity biegt lächelnd
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