Kartiks Schicksal
näher an den Rand kriechen.
Mein Herz steht still. Lautlos wende ich das Boot und rudere zurück zum Eingang der Höhle. Doch plötzlich ist die Öffnung verschwunden. Das kann nicht sein. Ich höre ein Schnauben und das Klappern von Hufen und Amar kommt auf seinem prächtigen weißen Ross in Sicht. Er reitet über den schmalen Sandstreifen am Rand der Höhle, bis er auf gleicher Höhe mit meinem Boot ist. Ich halte den Atem an. Aus der Nähe hat er die gleichen vollen Lippen und die gleiche stolze Haltung wie Kartik. Aber seine Augen sind rot umränderte, kreiselnde schwarze Tümpel. Sie halten mich fest und ich kann nicht wegschauen, kann nicht schreien, kann nicht rennen.
Benütze die Magie, die Magie, fleht mein Herz. Aber die Magie lässt sich nicht entzünden. Meine Angst ist zu groß.
»Ich weiß, dass du die Priesterin gesehen hast. Was hat sie dir gesagt?«, fragt Amar. Seine Zähne sind spitze Zacken.
»Das wirst du nie erfahren«, bringe ich mit Mühe heraus.
Amars Augen wechseln die Farbe und für einen Moment sind sie so braun wie die Augen Kartiks. »Sag meinem Bruder, er möge in sein Herz blicken. Dort sind seine Ehre und sein Schicksal zu finden. Sage ihm das.« Im nächsten Moment verwandeln sie sich wieder in jene schrecklichen, unergründlichen, rot umränderten Tümpel. »Du entrinnst uns nicht. Nimm dich in Acht vor der Geburt des Mai.«
Mein Atem kommt stoßweise, in raschen weißen Wölkchen aus meinem Mund, eine Symbiose aus meiner Angst und der Kälte.
»Lasst mich hinaus!«, schreie ich.
Plötzlich ist der Ausgang der Höhle wieder sichtbar und ich paddle mit aller Kraft darauf zu, Amar und jene bleichen, blinden Wesen hinter mir zurücklassend. Der Baum ist vergessen. Ich möchte nur noch sicher ins Niemandsland zurückkehren.
Schwer atmend taumle ich in den blauen Wald. Mit Erleichterung sehe ich die Lichter der Burg, die aus deren Fenstern sickern und die Dunkelheit vertreiben. Ich bin auch erleichtert, das Gelächter meiner Freundinnen zu hören, denn jetzt möchte ich mich daran beteiligen.
Hinter mir höre ich ein leises Donnergrollen, und als ich zum Himmel der Winterwelt zurückblicke, ist er blutrot.
38. Kapitel
In Spence wartet ein zum Gähnen langweiliger Tag auf uns. Wir verbringen die ganze Französischstunde mit dem Konjugieren von Verben. Offen gestanden ist mir der Unterschied zwischen Ich habe Schnecken gespeist und Ich werde Schnecken speisen piepegal, weil mir garantiert keine Schnecke jemals über meine Lippen kommen wird. Wir wiederholen die Schritte der Quadrille, bis ich sie im Schlaf ausführen könnte; wir rechnen unsere Ein- und Ausgaben zusammen, damit wir eines Tages die Haushaltsbücher führen und unseren Ehemännern bei der Verwaltung ihres Vermögens von Nutzen sein können. Unter Miss McChennmines Anleitung zeichnen wir einander im Profil; Elizabeth beschwert sich, dass ich ihr eine zu große Nase verpasst habe, obwohl ich in Wahrheit noch viel zu freundlich war.
Statt mit den anderen Tee zu trinken und ihrem Geschwätz über dieses Fest oder jenen Ball zu lauschen, entschuldige ich mich unter dem Vorwand, meinen Hofknicks zu üben. Auf der Suche nach dem Dolch, den Wilhelmina Wyatt gestohlen hat, oder irgendwelchen Hinweisen auf dessen Verbleib, durchstöbere ich alle Winkel und Ritzen der Schule. Leider finde ich nichts außer Staub, leeren Schubladen und vollgestopften Regalen. Ich bin ratlos, erst recht, da Miss Wyatt sich weder in meinen Visionen noch in meinen Träumen mehr blicken lässt. Es ist, als spiele sie mit mir, und ich erinnere mich an Dr. Van Ripples Bernerkung, sie habe ein Vergnügen an kleinen Grausamkeiten. Ich beginne an ihrer Vertrauenswürdigkeit mehr und mehr zu zweifeln.
Gerade als ich im Begriff bin, aufzugeben und zu den anderen zurückzukehren, entdecke ich im Efeu Kartiks Halstuch. Ich angle danach und knüpfe es los. Eine Nachricht ist angeheftet: Ich habe es arrangiert. Sie finden mich in der Waschküche. Um Mitternacht. Bringen Sie fünf Pfund mit. Ziehen Sie sich vernünftig an.
Heute Nacht. Danke, wie nett von ihm, mich so zeitig zu benachrichtigen. Trotzdem, es ist arrangiert, und wenn ich mit einem Repräsentanten der Rakschana sprechen kann, um meinen Bruder zu retten, dann gehe ich, wann und wohin auch immer.
Felicity ist über meine Pläne gar nicht glücklich. Sie will wieder ins Magische Reich zu Pippa, aber sie versteht, dass ich Tom helfen muss. Sie bietet mir sogar an, mir ihr Florett zu leihen
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