Kartiks Schicksal
für den Fall, dass ich jemanden erstechen muss. Ich versichere ihr, dass das nicht nötig sein wird, und hoffe, mit dieser Annahme recht zu behalten.
Unmittelbar vor Mitternacht mache ich mich bereit, um Kartik in der Waschküche zu treffen. Er hat geschrieben, ich solle mich vernünftig anziehen, und da wir des Nachts durch die Straßen Londons kutschieren werden, komme ich zu dem Schluss, dass es nur eine vernünftige Lösung gibt.
Mithilfe der Magie verschaffe ich mir Hosen, ein Hemd, eine Weste und einen Mantel. Ich kürze mein Haar und bin selbst überrascht, mich so zu sehen – nichts als Augen und Sommersprossen. Ich mache mich gut als Junge – vielleicht bin ich als Junge sogar hübscher, als ich es als Mädchen bin. Eine Stoffmütze vervollständigt die Illusion.
Das Waschhaus ist dunkel. Ich sehe und höre nichts und ich frage mich, ob Kartik überhaupt da ist.
»Sie sind spät«, sagt er, als er hinter einem Pfeiler hervortritt.
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen«, entgegne ich spitz.
»In meiner Nachricht stand ausdrücklich Mitternacht. Wenn wir rechtzeitig in London sein wollen, müssen wir sofort aufbrechen. Haben Sie das Geld?«
Ich halte meine Geldbörse hoch und lasse sie klingeln. »Fünf Pfund, wie verlangt. Wofür brauchen Sie die?«
»Informationen sind kostbar«, antwortet er. Er betrachtet meine Hosen. »Vernünftig.« Sein Blick wandert höher. Er wendet sich ab. »Knöpfen Sie Ihren Mantel zu.«
Mein Busen tritt unter dem Hemd leicht hervor. Diesen Teil meines Körpers habe ich nicht verkleidet. Verlegen knöpfe ich den Mantel zu.
»Hier«, sagt Kartik und bindet mir sein Tuch um den Hals. Die Enden hängen herunter und verdecken meine Brust.
Er führt mich zum Anspannplatz, wo Freya wartet. Kartik streichelt die Nase der Stute, um sie zu besänftigen. Er schwingt sich in den Sattel und reicht mir seine Hand, dann zieht er mich hinter sich aufs Pferd. Wir galoppieren sofort los. Ich schlinge meine Arme um seine Mitte und er hat nichts dagegen einzuwenden.
Unser Ritt dauert scheinbar eine Ewigkeit. Mein Hinterteil schmerzt. Endlich schimmern in der Ferne die Lichter von London. Am Stadtrand steigen wir ab. Unter tausend Versicherungen, dass wir zurückkommen werden, bindet Kartik die Stute an einem Baum fest. Er gibt ihr eine Karotte zu fressen und wir überlassen uns dem Pulsschlag des Londoner Nachtlebens. Die Straßen sind nicht so still, wie ich dachte. Es ist, als habe sich die eigentliche Stadt aus den Häusern gewagt, während ihr Gegenstück, die gewöhnliche Tagstadt, schläft. Das ist ein ganz anderes London, ein kühneres und unbekanntes London.
Kartik findet eine Droschke und klopft aufs Wagendach als Signal an den Kutscher. Mit Kartik neben mir erscheint die Droschke ziemlich eng. Seine Hände liegen starr auf seinen Oberschenkeln. Ich drücke mich in die Ecke.
»Wo wird das Treffen stattfinden?«
»In der Nähe der Tower Bridge.«
Die Nacht verschwimmt in dunstigem Licht. Kartik ist so nahe, dass ich ihn ohne Weiteres berühren könnte. Sein Hemd ist am Hals offen und entblößt seinen Adamsapfel. Es ist warm im Wagen. Ein Schwindelgefühl breitet sich in meinem Kopf aus. Ich brauche eine Ablenkung, bevor ich verrückt werde.
»Wie haben Sie das Treffen arrangiert?«
»Ich habe meine Verbindungen.«
Kartik gibt keine weitere Erklärung ab und ich stelle keine weiteren Fragen. Im Wagen herrscht wieder Schweigen. Das einzige Geräusch ist das Klappern der Hufe, das sich durch meinen Körper fortpflanzt. Kartiks Knie fällt gegen meines. Ich warte, dass er es wegnimmt, aber er tut es nicht. Meine Hände zittern in meinem Schoß. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er in die Straßen hinausblickt. Ich tue dasselbe, aber ich kann nicht behaupten, dass ich die Szenerie wahrnehme. Ich spüre nur die Wärme seines Knies. Wie ist es möglich, dass eine so kleine Ansammlung Knochen und Sehnen eine so erregende Wirkung ausübt?
Der Kutscher hält ruckartig an und Kartik und ich steigen direkt unterhalb der Tower Bridge aus. Die Brücke ist seit zwei Jahren im Bau und sie bietet einen überwältigenden Anblick. Zwei mächtige Türme erheben sich zu beiden Seiten der Themse wie mittelalterliche Befestigungen. Ein Gehweg spannt sich hoch über den Fluss. Die Brücke kann sich heben, um in den Hafen einlaufenden Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen – und das sind viele.
Eine alte Bettlerin sitzt im feuchten Schmutz auf dem Gehsteig. Sie schüttelt eine ausgebeulte
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