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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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jedem ausgestreuten Krümel eines boshaften Gerüchts zittern? Ich habe schon Schlimmeres überlebt. Ehrlich, Gemma, seit du uns nicht mehr ins Magische Reich bringst, bist du eine langweilige Spießbürgerin geworden. Ich erkenne dich kaum wieder.«
    »Ich wollte dich nur warnen«, protestiere ich.
    »Ich brauche keine Warnungen; ich brauche eine Freundin«, sagt sie. »Wenn du mich erziehen willst, kannst du dich gleich neben Mrs Nightwing setzen.«
    Sie stürmt davon, hakt sich bei Elizabeth unter und die Sonne, die so warm auf uns herabschien, ist kein Trost mehr.
    *
    Ich ziehe Anns Nachbarschaft der von Mrs Nightwing vor. Die Morgensonne erhellt die bunten Glasfenster der düsteren Kapelle. Sie bringt die Schmutzschicht auf den Engeln zum Vorschein und verleiht einem einsamen kriegerischen Engel neben einem abgetrennten Medusenhaupt einen wilden Glanz.
    Wir senken unsere Köpfe im Gebet. Wir singen Hymnen. Und zum Schluss liest unsere Französischlehrerin, Mademoiselle Le-Farge, ein Gedicht von William Blake vor.
     
    Und wandelte dereinst Sein Fuß
    Auf Englands grünen Bergeshöhn?
    Und ward das heil’ge Gotteslamm
    Auf Englands sanfter Flur gesehn?
     
    Wird das für immer und ewig mein Leben sein? Steife Teegesellschaften und die heimliche Befürchtung, dass ich nicht dazugehöre, dass ich eine Schwindlerin bin? Ich habe Magie in meinen Händen gehalten! Ich habe Freiheit in einem Land geschmeckt, wo der Sommer nie endet. Ich habe die Rakschana überlistet und ihnen einen Jungen abspenstig gemacht, dessen Kuss ich noch auf meinen Lippen fühle. War das alles umsonst? Lieber hätte ich es nie gekannt, als dass es mir wieder entrissen wird, nachdem ich davon gekostet habe.
    Ich bin nahe daran, in Tränen auszubrechen. Um meine Fassung zu bewahren, starre ich auf die bunten Glasfenster und auf die seltsame Mischung aus gefährlichen Engeln und unsicheren Kriegern. Mademoiselle LeFarge erfüllt die Kapelle mit den feierlichen Worten William Blakes.
     
    Und blickte Sein erhab’nes Angesicht
    Fortan auf unsere umwölkten Hügel?
    Und wurde hier Jerusalem erbaut
    Inmitten Satans dunklen Mühlen?
     
    Bringt mir des Bogens goldene Glut!
    Bringt mir den Pfeil, der Sehnsucht heilt!
     
    Ein paar der jüngeren Mädchen kichern beim Wort Sehnsucht und Mademoiselle LeFarge muss warten, bis wieder Ruhe einkehrt.
     
    Bringt mir den Speer, der Wolken teilt,
    Des Feuerwagens kühnen Mut!
     
    Nie wird mein Geist im Streit erlahmen
    Noch je mein Schwert entsinken meiner Hand, Eh wir Jerusalem erbaut
    In Englands grünem, wunderschönen Land.
     
    Mademoiselle LeFarge verlässt die Kanzel und Mrs Nightwing nimmt ihren Platz ein. »Danke, Mademoiselle LeFarge, für dieses Gedicht. Sehr bewegend. Es erinnert uns daran, dass die Größe oft in den kleinsten Dingen liegt, in den schlichtesten Herzen, und dass jeder von uns zur Größe berufen ist. Ob wir uns erheben, um nach ihr zu greifen, oder ob wir sie durch unsere Finger schlüpfen lassen, das ist die Herausforderung, vor die wir alle ge stellt sind.«
    Ihre Augen wandern durch den Raum, sie scheinen auf jedem Mädchen zu ruhen und jede von uns in einen unsichtbaren Kokon zu hüllen. Mein eben noch verspürter Drang zu kichern verschwindet und ein Gewicht drückt mich nieder, schwer wie ein später Frühlingsschnee.
    »Der April steht vor der Tür; der Mai winkt. Und für einige unserer Mädchen naht die Zeit, uns zu verlassen.«
    Neben mir reibt Ann geistesabwesend die Narben auf ihrem Arm. Ich nehme ihre Hand in meine.
    »Wir geben jedes Jahr einen kleinen Tee zu Ehren unserer Absolventinnen. Dieses Jahr werden wir das nicht tun.«
    Laute der Bestürzung pflanzen sich in der kleinen Kapelle fort. Das Grinsen weicht aus den Gesichtern der Mädchen. Elizabeth sieht aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Oh. Oh nein.«
    »Das kann sie doch nicht machen«, flüstert Cecily entsetzt. »Oder?«
    »Ruhe, bitte Ruhe.« Mrs Nightwings Worte hallen von den Wänden wider. »Es ist mir eine große Freude, Ihnen mitzuteilen, dass wir keinen Tee, sondern vielmehr einen Ball geben werden.«
    Eine Welle der Aufregung erfasst die Mädchen und schwappt von Reihe zu Reihe. Einen Ball!
    »Und zwar einen Maskenball, ein fröhliches Kostümfest, veranstaltet am ersten Mai für Wohltäter und Eltern. Zweifellos haben Sie schon angefangen, von Elfenflügeln und vornehmen indischen Prinzessinnen zu träumen. Vielleicht wird unter Ihnen ein Pirat oder Nofretete oder eine

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