Kartiks Schicksal
Zauberkraft ist außergewöhnlich. Sie vermehrt sich in dir und will heraus. Befreie deine Zauberkraft. Das ist es, wovor sie sich fürchten. Doch sei ganz unbesorgt. Ich kann dir helfen, aber du musst zu mir kommen. Öffne das Tor …
Die Szenerie wechselt. Ich bin in den Höhlen der Seufzer, vor dem Brunnen der Ewigkeit. Unter der eisigen Oberfläche des Wassers liegt Miss Moore, ihr dunkles Haar breitet sich aus wie das Haar der Göttin Kali. Miss Moore treibt in ihrem gläsernen Gefängnis dahin, so lieblich wie Ophelia, so furchterregend wie eine Gewitterwolke. Mich überläuft ein kalter Schauer, der mir bis ins Mark dringt.
»Sie sind tot«, rufe ich. »Ich habe Sie getötet.« Ihre Augen klappen auf. »Sie irren sich, Gemma. Ich lebe.«
Ich fahre aus dem Schlaf hoch und stelle fest, dass ich noch immer im Sessel sitze. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigt halb zwölf. Ich fühle mich eigenartig, schwindlig. Haarsträhnen hängen lose neben meinem Mund herunter und mein Blut pocht wild in meinen Adern. Mir ist zumute, als hätte mich ein Geist besucht.
Es war nur ein Traum, Gemma. Vergiss ihn. Felicity hat recht – Circe ist tot, und wenn ihr Blut an deinen Händen klebt, dann hast du keinen Grund, dich deswegen zu schämen. Aber ich kann nicht aufhören zu zittern. Und was ist mit dem anderen Teil des Traums? Ein Tor. Was würde ich nicht dafür geben, um wieder ins Magische Reich zu gelangen, die Magie wieder zu fühlen. Dieses Mal würde ich mich nicht davor fürchten. Ich würde mich überglücklich schätzen.
Heiße Tränen steigen mir in die Augen. Es ist zwecklos. Ich kann das Magische Reich nicht betreten. Ich kann meinen Freundinnen und meinem Vater nicht helfen. Ich kann Kartik nicht finden. Ich kann nicht einmal auf einem Gartenfest fröhlich sein. Es gibt keinen Platz, wohin ich gehöre. Ich stochere in dem erlöschenden Feuer, aber es zerfällt zu Asche. Es scheint, als sei ich auch dazu unfähig. Ich werfe den Schürhaken auf den Boden und schlage meinen Kopf auf den Kaminsims. Ich möchte mich in Hitze ertränken und die Kälteschauer abschütteln.
Meine Finger kribbeln, meine Arme zittern. Das gleiche Schwindelgefühl wie zuvor stellt sich wieder ein. Ich fürchte, in Ohnmacht zu fallen.
Ein plötzlicher heißer Atem fährt den Kamin hinab. Das Feuer lodert wieder auf. Mit einem lauten Schrei ziehe ich meine Hand zurück und falle auf den Boden. Im gleichen Moment zischt das Feuer und erlischt.
Ich halte meine Hand vor mein Gesicht. Habe ich das gemacht? Meine Fingerspitzen kribbeln immer noch ganz leicht. Ich halte sie über das leblose Feuer, aber nichts geschieht. Ich schließe die Augen. »Ich befehle euch, ein Feuer zu entzünden!« Ein verkohltes Holzscheit splittert und zerfällt zu Asche. Nichts.
Aufgeregte Schritte hallen durch den Flur. Mrs Jones stürzt ins Zimmer. »Miss Gemma? Was ist geschehen?«
»Das Feuer. Es war ausgegangen und dann brannte es plötzlich lichterloh, sodass der ganze Kamin in Flammen stand.«
Mrs Jones hebt den Schürhaken vom Boden auf und stochert in den letzten verkohlten Resten. »Jetzt ist es heruntergebrannt, Miss. Möglich, dass der Abzug verrußt ist. Ich rufe gleich morgen früh den Schornsteinfeger.«
Tom ist nach Hause gekommen, und obwohl es schon nach Mitternacht ist, hatte ich ihn noch viel später erwartet. Er schenkt sich ein Glas von Vaters Scotch ein und lässt sich in einem Sessel nieder.
Mrs Jones wirft ein missbilligendes Auge auf ihn. »Guten Abend, Sir. Brauchen Sie mich noch?«
»Nein, danke, Mrs Jones. Sie können sich zurückziehen.«
»Gut, Sir. Miss.«
Tom streift mich mit einem verächtlichen Blick. »Solltest du nicht längst im Bett sein?«
»Wie könnte ich schlafen, wenn ich weiß, dass das jüngste Mitglied des Athenäum-Klubs unser Heim jeden Moment mit seiner erhabenen Gegenwart beehren wird?« Ich verbeuge mich mit einer übertriebenen Geste und erwarte, dass Tom den Hieb pariert. Als er es nicht tut, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich meinen Bruder vor mir habe. Es sieht ihm nicht ähnlich, mir das letzte Wort zu lassen, ohne den geringsten Versuch, mich herunterzumachen.
»Tom?«
Er ist in seinem Sessel zusammengesunken, mit gelockerter Krawatte und roten Augen.
»Sie haben für Simpson gestimmt«, sagt er leise.
»Es tut mir leid«, sage ich und das tut es wirklich. Ich finde es zwar dumm, dass Tom so versessen auf den Athenäum-Klub ist, aber ihm bedeutet es wahnsinnig viel und es war grausam von
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