Kartiks Schicksal
zweifelnd die Tassen. Sie riechen daran, rümpfen die Nasen und kräuseln die Lippen. Aber sie alle malen pflichtschuldig das Zeichen an die Fenster und bald entsteht ein fröhlicher Wettstreit, wer von ihnen am meisten schafft. Lachend schubsen sie sich gegenseitig vom Platz. Brigid dagegen ächzt und stöhnt. Schweißperlen treten auf ihre Stirn. Sie wischt sie mit dem Handrücken ab.
Mit vereinten Kräften versiegeln und markieren wir jede Tür, jedes Fenster. Jetzt können wir nichts weiter tun als warten. Die Dämmerung weicht allzu schnell der Nacht. Die Rosa- und Blautöne des Tages gehen zuerst in Grau, schließlich in Indigoblau über. Ich kann das Licht nicht zwingen dazubleiben. Ich kann die Dunkelheit nicht zurückhalten. Wir schauen in die unendliche Nacht hinaus. Die Lichter von Spence blenden uns gegen das Dunkel des Waldes.
Kein Windhauch regt sich. Die Luft ist schwül und meine Haut ist feucht. Ich zerre an meinem Kragen. Bis um neun Uhr ist es den jüngeren Mädchen langweilig geworden, auf das Erscheinen der Kobolde zu warten. Sie gähnen, doch Brigid erklärt ihnen, wir müssten bis nach Mitternacht im Marmorsaal zusammenbleiben – das gehöre zum Spiel –, und sie akzeptieren es. Die älteren Mädchen mokieren sich über die Zigeuner in unserer Mitte und werfen einander missbilligende Blicke zu. Sie sticheln – mit ihren Handarbeitsnadeln ebenso wie mit Worten. Ich bin auf der Hut und habe Angst. Jedes Geräusch, jede Bewegung erschreckt mich. Sind sie’s? Sind sie gekommen, um uns zu holen? Doch nein, es ist nur das Knarren eines Dielenbretts, das Zischen einer Gaslampe.
Mrs Nightwing hält ein Buch in den Händen, aber sie liest kein Wort darin. Ihre Augen wandern unablässig von den Türen zu den Fenstern und wieder zurück. Felicity und Ann spielen Whist in Felicitys Zelt, aber ich bin viel zu aufgeregt, um mitzuspielen. Stattdessen halte ich Mutter Elenas Hand und starre gebannt auf die Kaminuhr, als könnte ich von ihr die Zukunft ablesen. Zehn Uhr. Fünfzehn nach. Halb elf. Wird dieser Tag ereignislos vorübergehen? Habe ich mich wieder geirrt?
Der Minutenzeiger bewegt sich weiter. In meinen Ohren klingt es wie das Abfeuern einer Kanone. Bis um elf Uhr sind die meisten Mädchen eingeschlafen. Kartik und Fowlson lassen die verschlossenen Türen nicht aus den Augen. Neben mir ist Mutter Elena in einen unruhigen Schlaf gesunken.
Diejenigen unter uns, die noch wach sind, sitzen kerzengerade. Mrs Nightwing legt ihr Buch ans Ende des Tisches. Brigid umklammert ihren Rosenkranz. Ihre Lippen bewegen sich in stummem Gebet. Die Minuten vergehen. Fünf, zehn, fünfzehn. Nichts. Die Dunkelheit draußen ist ruhig, ungestört. Halb zwölf. Nur noch eine halbe Stunde, dann ist der Tag vorbei. Meine Augenlider werden schwer. Das Ticken der Uhr schläfert mich ein. Klick. Klick. Kl …
Stille.
Ich öffne mit einem Schlag die Augen. Die Uhr auf dem Kaminsims ist stehen geblieben. Der Marmorsaal ist so still wie eine Gruft. Kartik zieht sein Messer.
»Was ist?«, flüstert Brigid.
Miss McChennmine heißt sie schweigen.
Ich höre sie auch – die schwachen Geräusche von Pferden draußen auf dem Rasen. Das schrille Krächzen eines Raben. Und die Farbe weicht aus Mrs Nightwings Gesicht. Mutter Elena ist aus ihrem Schlummer aufgeschreckt. Sie umklammert fest meine Hand.
»Sie sind da«, sagt sie.
65. Kapitel
Im Raum ist es unnatürlich still. Schweißperlen stehen auf meiner Oberlippe. Ich wische sie mit zitternder Hand fort.
»Sie können nicht herein«, flüstert Brigid. »Wir haben jede Tür und jedes Fenster mit einem Schutzzeichen versiegelt.«
»Sie haben starke Zauberkräfte. Sie werden nicht aufgeben, bis sie haben, was sie wollen.« Mutter Elena sieht dabei mich an.
»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagt Miss McChennmine. »Ein Pferd. Ein Rabe. Es muss gar nichts sein.«
»Du hast geschworen, es würde keine Gefahr bestehen«, sagt Mrs Nightwing mehr zu sich selbst.
»Ich bin überzeugt, dass, abgesehen von Miss Doyles Geisteszustand, keinerlei Gefahr bestand.«
Von draußen höre ich wieder die Geräusche unruhiger Pferde, Vögel.
»Was ist los? Was gibt es?«, fragt Elizabeth schläfrig.
»Mrs Nightwing, können wir jetzt nicht ins Bett gehen, bitte?«, fragt eines der Mädchen.
»Pst!«, sagt Mrs Nightwing. »Unser Spiel ist erst nach Mitternacht zu Ende.«
»Mr Fowlson, würden Sie bitte nachsehen?«, fügt Miss McChennmine hinzu.
Mr Fowlson nickt und
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