Kartiks Schicksal
muss jetzt in dir stecken.«
»Ja, so ist es wohl«, sage ich, aber ich kann es noch nicht wirklich glauben. Ich drehe meine Handflächen nach oben, dann nach unten und starre auf meine Hände, als hätte ich sie noch nie gesehen. Es sind dieselben uninteressanten, sommersprossigen Hände, die ich immer gehabt habe, und trotzdem …
»Mach was anderes!«, kommandiert Felicity.
»Was zum Beispiel?«, frage ich.
»Verwandle diesen Baum in einen Drachen …«
»Nein, keinen Drachen!«, unterbricht Ann erschrocken.
»Oder verwandle die Blumen in galante Herren …«
»Ja, das gefällt mir«, sagt Ann.
»Oh, ehrlich, Gemma! Du hast den ganzen Tempel in dir. Mach, was du dir wünschst!«
»Nun gut«, sage ich. Zu meinen Füßen liegt ein kleiner Felsbrocken. »Hmmm, also dann, na ja, dann verwandle ich eben diesen Stein in einen … einen …«
»Falken!«, ruft Felicity, während Ann sagt: »Prinzen!«
Ich bücke mich, um den Stein zu berühren, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, als seien wir eins; ich bin Teil des Erdbodens. Etwas Glitschiges stößt mit einem lauten »Quak!« gegen meine Hand. Der Frosch sieht mich mit großen Augen an, als sei er erschrocken, dass er kein Stein mehr ist.
Ann schneidet ein Gesicht. »Ich hatte auf einen Prinzen gehofft.«
»Du kannst ihn ja küssen«, schlage ich vor und Felicity lacht.
Ann pflückt ein Gänseblümchen und zupft der Reihe nach die Blütenblätter ab. »Wenn du die ganze Zauberkraft in dir hast, Gemma, was bedeutet das für uns?«
Felicity hört auf zu lachen. »Dass wir keine haben.«
»Sobald wir ein Bündnis mit den anderen Bewohnern des Magischen Reichs geschlossen haben, werden wir die Magie teilen …«
»Ja, aber das könnte Monate dauern«, wendet Felicity ein. »Was ist jetzt?«
Ann hat das zerrupfte Gänseblümchen in ihrem Schoß gesammelt. Sie will mich nicht einmal ansehen. Einen Augenblick zuvor war ich überglücklich. Jetzt fühle ich mich schrecklich schuldig, dass ich diese Zauberkraft habe und meine Freundinnen nicht.
»Wenn ich der Tempel mit all seiner Magie bin«, sage ich zögernd, »dann müsste es mir doch möglich sein, euch etwas davon abzugeben, so wie der Tempel es immer getan hat.«
»Lass es uns versuchen«, sagt Felicity. Sie legt eine Hand auf meinen Arm. Ihr brennender Wunsch wärmt die Haut unter meinem Ärmel und ich möchte ihre Hand abschütteln. Denn wenn ich ihr etwas von meiner magischen Kraft gebe, bleibt mir dann weniger? Wird sie dann mehr haben als ich?
»Gemma?«, sagt Felicity. Ihre Augen sind so voller Hoffnung. Ich bin eine miserable Freundin, wenn ich es ihr verweigere.
»Gib mir deine Hände«, sage ich. Ein scharfer Ruck, fast wie ein leiser Schmerz, und für einen Moment ist es, als seien wir ein und dieselbe Person. Ich kann in meinem Kopf das Echo ihrer Wünsche hören. Freiheit. Zauberkraft. Pippa. Pippa ist der stärkste Wunsch und ich fühle Felicitys Schmerz um unsere fehlende Freundin wie eine tiefe Wunde. Wir lassen einander los und ich muss mich kurz gegen einen Baum lehnen.
Felicity grinst von einem Ohr bis zum anderen. »Ich spür sie. Ich spür siel«
Und dann beobachte ich, wie ein schimmernder Brustharnisch über ihrem Nachthemd erscheint. Ihr Haar fällt lang und lose herab. In ihrer einen Hand hält sie ein Schwert. Auf dem anderen Arm sitzt ein Falke. »Oh, wenn diese alten Schachteln mich jetzt sehen könnten!« Felicitys Stimme nimmt einen herrischen Ton an. »Tut mir leid, Lady Ramsbottom, aber wenn Sie noch einmal über mich spotten, werde ich meinem Falken erlauben müssen, Sie aufzufressen.«
Ann sieht mich hoffnungsvoll an.
»Hier, gibt mir deine Hände«, sage ich.
Im nächsten Moment betrachtet Ann ihre Hände, als könne sie das Wunder ihrer eigenen Haut nicht fassen. Tränen strömen über ihr Gesicht.
»Ich fühle mich wieder lebendig«, sagt sie zwischen Tränen und Lachen. »Ich war innerlich so tot, aber jetzt … Oh, spürst du es nicht?«, fragt sie.
»Doch«, sage ich begeistert. »Oh ja!«
Ann beschenkt sich mit einem mittelalterlichen Kleid aus gesponnenem Gold. Sie sieht darin fast wie eine Märchenprinzessin aus.
»Ann, du bist wunderschön!«, rufe ich. Ich möchte, dass diese Nacht nie zu Ende geht.
Felicity lässt den Falken los. Er schwingt sich in kühnen Kreisen höher und höher. Er ist frei und selbst der Himmel kann ihn nicht aufhalten.
Der Fluss kündigt die Ankunft von etwas Neuem an. Ein großes Schiff steuert knarrend auf uns
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