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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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ist, was für ein grausames Schicksal die große Eugenia Spence erleiden musste und ob ich je imstande sein werde, stellvertretend für die Sünde meiner Mutter zu büßen.
    *
    Als mir die Augen zufallen, werde ich von beunruhigenden Träumen heimgesucht. Eine hübsche Frau in einem lavendelfarbenen Kleid und ebensolchem Hut eilt durch Londons Straßen, die von dichtem Nebel erfüllt sind. Ihr rötliches Haar fällt lose in ihr erschrockenes Gesicht. Sie winkt mir, ihr zu folgen, aber ich kann nicht Schritt halten; meine Füße sind schwer wie Blei und ich kann nichts sehen. Das Kopfsteinpflaster ist mit Reklamezetteln für irgendeine Veranstaltung übersät. Ich hebe einen davon auf:
     
    DR. THEODORE VAN RIPPLE
    – MEISTERILLUSIONIST!
     
    Der Nebel lichtet sich und ich steige die Treppen von Spence hi nauf, vorbei an dem riesigen Porträt von Eugenia Spence. Ich klettere immer weiter, bis ich mich in meinem Nachthemd auf dem Dach befinde. Der Wind fährt durch meine Glieder. Am Horizont ballen sich Gewitterwolken zusammen. Unten setzen die Männer ihre Arbeit am Ostflügel fort. Ihre Hände sind so flink wie das Blinzeln einer Eule. Die Steinmauer wächst immer höher. Eine Schaufel stößt im Boden auf etwas Hartes und sitzt fest. Die Männer schauen zu mir. »Wollen Sie, dass es geöffnet wird, Miss?«
    Die Frau im lavendelfarbenen Kleid macht den Mund auf. Sie versucht mir etwas zu sagen, aber es kommt kein Ton heraus. Ich lese nur die Angst in ihren Augen. Plötzlich gerät alles in Bewegung. Ich sehe einen von einer einzigen Lampe erhellten Raum und höre Stimmen. Ein Dolch. Die Frau, die wegrennt. Ein Leichnam, der auf dem Wasser treibt. Ein Flüstern in meinem Ohr: »Komm zu mir …«
    Ich wache schlagartig auf. Ich möchte wieder einschlafen, aber es gelingt mir nicht. Irgendetwas ruft mich, zieht mich die Treppe hinunter und auf den Rasen hinaus, wo ein voller Mond sein buttergelbes Licht über das Holzskelett des Ostflügels ergießt. Der Turm ragt in tief hängende Wolken. Auf dem Dach des Hauptgebäudes schlafen die Wasserspeier. Der Boden unter meinen Füßen scheint zu summen. Wieder zieht es mich zu dem Turm und dem Stein, der dort liegt. Ich steige in die Grube hinunter. Das Mondauge glüht und in dem schwachen Licht sehe ich auf dem Stein einen Umriss, der die gleiche Form hat wie das Amulett.
    Ein Kribbeln erfasst meine Finger. Es wandert durch meinen Körper. Irgendetwas in meinem Innern möchte heraus. Ich kann es nicht kontrollieren und ich fürchte mich davor, was immer es ist.
    Ich lege meine Hände auf den Stein. Eine gewaltige Kraft durchströmt mich. Der Stein glüht weißgolden und die Welt kippt. Es ist, als würde man das Negativ einer Fotografie betrachten. Hinter mir ist Spence, vor mir das Skelett des Ostflügels und ein Stück dahinter der Wald. Aber wenn ich den Kopf drehe, sehe ich noch etwas, das schimmernd zwischen beiden steht. Ich blinzle, um das Bild scharf zu bekommen.
    Und als ich wieder schaue, sehe ich den Umriss eines Tores.
    *
    »Gemma, wozu bringst du uns mitten in der Nacht hierher?«, murrt Felicity, während sie sich den Schlaf aus den Augen reibt.
    »Du wirst schon sehen«, sage ich und leuchte mit der Lampe über den Rasen.
    Felicity zittert in ihrem dünnen Nachthemd. »Wir hätten wenigstens unsere Mäntel mitnehmen können.«
    Ann schlingt die Arme um ihre Taille. Ihre Zähne klappern. »Ich w-w-will zurück ins B-Bett. Wenn uns Mrs Nightwing f-f-findet …« Sie wirft einen Blick zurück, um nach Anzeichen unserer Direktorin auszuschauen.
    »Ich verspreche, dass ihr nicht enttäuscht sein werdet. Also. Stellt euch hierhin.« Ich platziere sie neben dem Turm und stelle die Laterne zu ihren Füßen. Das Licht taucht sie in ein unirdisches Weiß.
    »Wenn das irgendein kindischer Streich ist, bring ich dich um«, warnt Felicity.
    »Ist es nicht.« Ich stelle mich an den Grubenrand über dem alten Stein und schließe die Augen.
    »Gemma, wirklich«, jammert Felicity.
    »Schhh! Ich muss mich konzentrieren«, sage ich ungehalten. Der Zweifel wispert erbarmungslos in meinem Ohr: Du schaffst es nicht. Die Zauberkraft hat dich verlassen.
    Ich will nicht auf ihn hören. Dieses Mal nicht. Langsam sage ich mich von meiner Furcht los. Der Grund unter meinen Füßen vibriert. Der Erdboden selbst scheint mich zu rufen, mich mit seiner magischen Hand hinunterzuziehen. In meinen Fingern pocht eine Energie, die ebenso erschreckend wie aufregend ist. Ich öffne die Augen und

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