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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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stößt das Tor auf. »Zu Hause.«
    Die Burg mag einst eine stolze Festung gewesen sein, doch jetzt ist sie nur noch ein altes Backsteingemäuer, zusammengehalten von Ranken anstelle von Mörtel. Die Mauern sind feucht und mit Moos bewachsen. Es riecht nach Fäulnis und Verwesung. Verwelkte Gänseblümchen, die tot an ihren Stängeln hängen, lugen zwischen zerbrochenen Steinplatten hervor. Was dagegen zu wachsen scheint, sind Tollkirschen. Die giftigen schwarzen Beeren baumeln über unseren Köpfen wie kleine Glocken.
    Pippa führt uns in einen großen Raum, der einstmals ein eleganter Salon gewesen sein mag.
    »Das ist es also, wo du ge …« Ich wollte sagen gelebt hast. »Wo du die ganze Zeit gewesen bist?«
    »Es ist alles, was mir geblieben ist. Eine modernde Burg für die Lady von Shalott.« Pippa lacht ein hohles Lachen. Sie streicht mit den Händen über die kunstvollen, in eine Kaminplatte eingeritzten Verzierungen. Die Gravuren sind wie die Gesichter von Heiligen, schwarz geworden mit der Zeit. »Aber man kann sehen, dass sie einmal magisch und schön war.«
    »Was ist mit ihr geschehen?«, fragt Ann.
    Pippa starrt mich an. »Sie wurde vergessen.«
    Felicity zieht einen fadenscheinigen Wandteppich zur Seite und enthüllt eine Wendeltreppe. »Wohin führt die?«
    »Auf den Turm«, sagt Pippa mit einem wehmütigen Lächeln. »Das ist mein Lieblingsplatz, denn von dort kann ich meilenweit sehen. Ich konnte sogar sehen, wie ihr den Weg entlanggekommen seid. Ihr wart so fröhlich.« Ihr Lächeln schwindet, aber sie ersetzt es rasch durch ein neues. »Soll ich ihn euch zeigen?«
    Wir folgen Pippa die alte, gewundene Treppe hinauf. Spinnweben hängen an vermodernden hölzernen Dachbalken hoch über uns. Die silbrigen Fäden glitzern vor Feuchtigkeit. Irgendein unglückliches Geschöpf hat dort sein Ende gefunden. In der Mitte eines Netzes liegt sein verwesender Leichnam gefangen und eine Spinne bewegt sich langsam darauf zu.
    Ich stütze mich gegen die Wand. Die Ranken schlingen sich um meine Finger. Erschrocken springe ich zurück und rutsche auf dem zerbröckelnden Stein aus. Pippa fasst nach meiner Hand und zieht mich in Sicherheit. »Wartet einen Moment«, sagt sie.
    Staunend beobachten wir, wie die Ranken kreuz und quer über das Gemäuer kriechen wie ein siegreich vorrückendes Heer. Die Wände ächzen vor Anstrengung und ich fürchte, dass die ganze Burg um uns einstürzen wird. Sekunden später ist es vorbei, aber überall sind neue Schlinggewächse hervorgesprossen.
    »Was war das?«, flüstert Felicity.
    »Das Land verschlingt sie täglich, Stück für Stück«, sagt Pippa traurig. »Wahrscheinlich werden wir uns bald eine neue Unterkunft suchen müssen.« Sie lässt meine Hand los. »Bist du in Ordnung, Gemma?«
    »Ja«, sage ich. »Danke.«
    »Jetzt habe ich dir zum zweiten Mal das Leben gerettet«, erinnert sie mich. »Weißt du noch das erste Mal? Die Quellnymphen haben dich fast unter Wasser gezogen, aber ich habe dich zurückgezerrt«, sagt sie und ich habe das Gefühl, zwischen uns ist das Rechnungsbuch aufgeschlagen.
    Pippa hat recht: Die Aussicht ist fantastisch. Von der Spitze des Turms können wir den ganzen Weg überblicken, den wir gekommen sind – die Höhlen der Seufzer, die Olivenbäume, die die Felder säumen, den blauen Himmel und den orangegoldenen Sonnenuntergang. Dahinter können wir auch die Winterwelt ahnen, wo am Horizont frostige dunkle Wolken hocken und eine riesige Mauer sich über die ganze Länge des Gebiets erstreckt.
    »Das ist die Grenze zur Winterwelt«, sagt Pippa und beantwortet damit eine unausgesprochene Frage.
    Wetterleuchten durchzuckt die brodelnde Masse schwarzgrauer Wolken. Für einen Moment flammt ein roter Schein im Dunkel des Himmels auf.
    »Das sehen wir jetzt schon zum zweiten Mal. Weißt du, was es ist?«, frage ich.
    Pippa schüttelt den Kopf. »Es kommt dann und wann vor. Wir sollten jetzt hinuntergehen. Wendy wird sich fürchten, das arme Lämmchen.«
    »Wer ist Wendy?«, fragt Ann.
    Zum ersten Mal erhellt ein ehrliches Lächeln Pippas Gesicht. Ihre Augenfarbe wechselt zu Veilchenblau und erinnert mich an Pippa, wie sie war, lebendig und schön, wie sie sich gefreut hat über ihre neuen Handschuhe oder irgendeine romantische Geschichte. »Es ist unverzeihlich, dass ich euch meinen neuen Freundinnen nicht richtig vorgestellt habe!«
    Pippa führt uns in einen mit Wandteppichen behängten Raum hinunter, der so düster ist wie eine Gruft. Es gibt keine

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