Kartiks Schicksal
sind verraten. Sie ist eine Betrügerin. Der Baum Aller Seelen lebt. Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden.
Die Menge ringt nach Atem und applaudiert, aber ich werde aus dem Theater hinausgezogen. Ich bin wieder auf der Straße. Die Frau ist direkt vor mir, sie läuft über das schlüpfrige Kopfsteinpflaster, an Reihen eng stehender, unbeleuchteter Häuser vorbei. Sie läuft um ihr Leben, ihre Augen sind wild vor Angst.
Die Männer im Boot rufen einander zu. Mit ihren langen Haken fischen sie den kalten Leichnam der Frau aus dem Fluss. Sie hält einen Zettel umklammert. Worte erscheinen wie von selbst auf dem Papier: Du bist die Einzige, die uns retten kann …
Die Vision verlässt mich wie ein Zug, der durch meinen Körper rast, herausschießt und verschwindet. Ich komme im Innern des moderigen Bootshauses zu mir und im selben Moment bricht das Ruder in meinen Händen entzwei. Zitternd sinke ich auf den Boden und lege die zerbrochenen Teile neben mich. Ich bin der Gewalt einer Vision nicht mehr gewachsen. Es schnürt mir die Brust zu.
Ich stolpere aus dem Bootshaus und atme die frische, kühle Luft in tiefen Zügen ein. Die Sonne vollbringt ihr Wunderwerk und vertreibt den letzten Rest meiner Vision. Mein Atem kommt zur Ruhe und mein Kopf wird klar.
Der Baum Aller Seelen lebt. Du bist die Einzige, die uns retten kann. Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden.
Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Mein Kopf schmerzt und das permanente Hämmern, das von der Baustelle herüberdringt, macht es nicht besser.
Mutter Elena erschreckt mich. Sie zieht ihr Halstuch zur Seite und horcht auf das Hämmern. »Das bringt Unheil. Ich fühl’s. Fühlst du’s?«
»N-nein«, sage ich und stolpere auf die Schule zu. Mutter Elena kommt mir nach. Ich werde schneller. Bitte, bitte geh weg. Lass mich in Ruhe. Wir erreichen die Lichtung und den kleinen Hügel. Von hier aus gesehen erhebt sich der höchste Teil von Spence majestätisch über die Bäume. Die Arbeiter sind zu erkennen. Große Glasscheiben werden an dicken Seilen heraufgezogen und an ihren Platz gebracht.
Mutter Elena keucht, ihre Augen sind angstgeweitet. »Das dürfen sie nicht!«
Sie geht mit raschen Schritten auf Spence zu und ruft dabei Worte in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Aber ich höre die Panik in ihrer Stimme.
»Ihr wisst nicht, was ihr tut!«, ruft Mutter Elena den Arbeitern jetzt in Englisch zu.
Mr Miller und seine Männer haben für die verrückte Zigeunerin und ihre Ängste nur höhnisches Gelächter übrig. »Verschwinde und misch dich nicht in unserer Männerarbeit ein!«, rufen sie.
Aber Mutter Elena lässt sich nicht beirren. Sie schreitet zielstrebig über den Rasen und droht den Arbeitern mit dem Finger. »Es ist eine Verwünschung – ein Fluch!«
Ein Arbeiter stößt einen plötzlichen Warnruf aus. Eine Glasscheibe ist einem seiner Kollegen aus den Händen gerutscht. Sie dreht sich an ihrem Seil und schaukelt bedenklich in der Luft, bis sie vorsichtig wieder hochgezogen und in Empfang genommen wird. Ein Mann greift danach und schneidet sich an der scharfen Kante in die Hand. Er schreit auf, als das Blut über seinen Arm rinnt. Ein Taschentuch wird gereicht und die blutige Hand verbunden.
»Seht ihr?«, ruft Mutter Elena.
Mordlust blitzt in Mr Millers Augen auf. Er droht der Frau mit dem Hammer, bis ein anderer Mann ihn zurückzieht. »Ihr dreckigen Zigeuner! Ihr seid der einzige Fluch, den ich sehe!«
Das Geschrei hat die Zigeuner aus dem Lager gelockt. Ithal stellt sich schützend vor Mutter Elena. Auch Kartik ist da. Mr Millers Männer packen Hämmer und Eisenwerkzeuge, um ihrem Vorarbeiter zur Seite zu stehen, und ich fürchte, es wird ein schreckliches Blutbad geben.
Irgendjemand hat nach Inspektor Kent geschickt. Er betritt den schmalen Grasstreifen, der die Zigeuner und die englischen Arbeiter trennt. »Also, was ist das Problem?«
»Dreckige Zigeuner, Kumpel«, geifert Mr Miller.
Inspektor Kents Augen werden stahlhart. »Ich bin nicht Ihr Kumpel, Sir. Und geben Sie gut auf diese Damen acht oder ich bringe Sie vor Scotland Yard.« Zu Mutter Elena sagt er: »Sie gehen am besten wieder zurück, Ma’m.«
Die Zigeuner machen kehrt, doch zuvor spuckt einer der Arbeiter – der Mann mit dem rot geflickten Hemd – nach ihnen und seine Spucke landet auf Ithals Wange. Er wischt die Spucke fort, aber seine Wut kann er nicht so einfach wegwischen. Auch in Kartiks Augen brennt Zorn, und als er mich ansieht, fühle ich mich,
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