Kartiks Schicksal
ich.
Sie rollt mit den Augen. »Also steig schon auf.«
Ich schlucke den Klumpen in meiner Kehle hinunter und hieve mich auf den äußerst unbequemen Sitz. Ich halte die Griffe der Lenkstange so fest, dass meine Finger schmerzen. Ich hebe einen Fuß aufs Pedal. Das eiserne Biest schwankt und ich stelle den Fuß rasch wieder auf den Boden. Mein Herz klopft mir bis zum Hals.
»So kommst du nicht weit«, schilt Felicity. »Du musst es laufen lassen.«
»Aber wie …«,frage ich verzweifelt.
»Lass. Es. Einfach. Laufen.«
Mit einem kräftigen Stoß befördert mich Felicity über das Gras und den sanften Hügel hinunter, auf den Feldweg zu. Die Zeit scheint stillzustehen. Ich habe Angst und gleichzeitig macht es mir Spaß.
»Du musst treten, Gemma!«, ruft Felicity. »Einfach weitertreten!«
Meine Füße stoßen krampfhaft auf die Pedale nieder und treiben mich vorwärts, aber die Lenkstange hat ihren eigenen Kopf. Ich kann sie nicht kontrollieren.
Ich will, dass du mir gehorchst, störrisches Ding !
Eine Welle magischer Kraft strömt durch meine Adern. Plötzlich ist das Fahrrad ganz zahm. Es ist überhaupt kein Problem, es laufen zu lassen.
»Ha!«, rufe ich begeistert. Magie! Ich bin gerettet! Ich fahre einen kleinen Hügel hinunter und komme von der anderen Seite zurück, ganz Grazie. Die Menge auf dem Rasen jubelt mir zu. Cecily starrt mich mit offenem Mund an.
»Großartig!«, ruft Inspektor Kent. »Ein echtes Naturtalent!«
Auch Felicity staunt. »Gemma!«, ruft sie vorwurfsvoll. Sie kennt mein Geheimnis.
Aber es ist mir egal. Ich bin verrückt nach Radfahren! Es ist ein herrlicher Sport! Der Wind weht mir den Hut vom Kopf. Er rollt den Hügel hinunter und drei Arbeiter laufen ihm nach. Lachend streiten sie sich darum, wer ihn mir zurückbringen darf. Das ist Freiheit. Es macht mich übermütig. Immer schneller strample ich den Hügel hinauf und sause auf der anderen Seite hinunter, auf die Straße zu, mit jedem Tritt ins Pedal das Fahrrad noch rascher vorantreibend. Die Räder lösen sich vom Boden und für einen kurzen, beglückenden Moment bin ich schwerelos. Mein Magen kitzelt mich von innen. Lachend nehme ich die Hände von der Lenkstange und trotze dem Schicksal und der Fliehkraft.
»Gemmai Komm zurück!«, rufen die Mädchen, aber sie befinden sich auf verlorenem Posten. Ich drehe mich um und winke ihnen munter zu, während ich beobachte, wie sie in der Ferne kleiner und kleiner werden.
Als ich wieder nach vorn schaue, steht jemand auf der Straße. Ich weiß nicht, woher er gekommen ist, aber ich rase geradewegs auf ihn zu.
»Vorsicht!«, schreie ich.
Der Jemand springt zur Seite. Ich verliere die Konzentration. Ich habe das Fahrrad nicht mehr unter Kontrolle. Es schwankt wild von einer Seite zur anderen, bevor es mich im hohen Bogen ins Gras schleudert.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Der Jemand reicht mir seine Hand und ich nehme sie. Mit wackligen Beinen stehe ich auf. »Sind Sie verletzt?«
Ich habe Abschürfungen und Prellungen. Meine Pumphose hat einen Riss und darunter, wo meine Strümpfe hervorschauen, ist ein Fleck von Gras und Blut.
»Sie hätten vorsichtiger sein können, Sir«, schimpfe ich.
»Sie hätten besser aufpassen können, Miss Doyle«, antwortet er mit einer Stimme, die ich kenne, obwohl sie rauer geworden ist.
Ich reiße den Kopf hoch und nehme seinen Anblick in mich auf: die langen, dunklen Locken, die unter seiner Schirmmütze hervorquellen. Der Rucksack auf seinem Rücken. Er trägt eine staubige Hose, Hosenträger und ein einfaches Hemd mit bis zu den Ellbogen aufgerollten Ärmeln. Das alles ist mir vertraut. Aber er ist nicht der Jüngling, den ich zu Weihnachten verlassen habe. Er ist in diesen wenigen Monaten zum Mann geworden. Seine Schultern sind breiter, seine Gesichtszüge schärfer. Und noch etwas an ihm hat sich verändert, das ich nicht benennen kann. Wir stehen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, meine Hände halten die Lenkstange fest, ein Ding aus Eisen zwischen uns.
Ich wähle meine Worte so vorsichtig wie ein Messer. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
Ein kleines Lächeln spielt um seine Lippen. »Sie haben sich aufs Radfahren verlegt, wie ich sehe.«
»Ja, in diesen Monaten ist viel geschehen«, entgegne ich schroff.
Kartiks Lächeln erlischt und ich bedaure meine grobe Antwort.
»Sie sind verärgert.«
»Bin ich nicht«, gebe ich mit einem rauen Lachen zurück.
»Ich kann es Ihnen nicht verübeln.«
Ich schlucke schwer. »Ich
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