Kartiks Schicksal
die erst siebenjährige Polly.
»Felicity, würdest du für ein Weilchen auf unsere Polly aufpassen? Ihre Gouvernante hat die Hitze nicht vertragen und deine Mutter ist im Moment beschäftigt.«
»Ja, selbstverständlich, Papa«, sagt Felicity.
»Gutes Mädchen. So lob ich’s mir. Achte auf die Sonne«, warnt der Admiral und wir heben pflichtschuldig unsere Sonnenschirme hoch.
»Also komm«, sagt Felicity zu dem Kind, sobald ihr Vater weg ist.
Polly geht zwei Schritte hinter uns und schleift ihre Puppe durch den Schmutz. Die Puppe war ein Weihnachtsgeschenk und ist schon ramponiert.
»Wie heißt deine Puppe?«, frage ich und tue für einen Moment so, als wäre ich im Umgang mit kleinen Kindern nicht eine vollkommene Niete.
»Sie hat keinen Namen«, antwortet Polly mürrisch.
»Aber warum denn nicht?«
Polly zerrt die Puppe grob über einen Stein. »Weil sie ein böses Mädchen ist.«
»Sie sieht gar nicht so schlimm aus. Warum ist sie böse?«
»Sie erzählt Lügen über ihren Onkel.«
Felicity wird blass. Sie bückt sich nieder und hält ihren Schirm über sie beide. »Hast du dir gemerkt, was ich dir gesagt habe, Polly? Hast du in der Nacht deine Tür zugesperrt, damit die Monster draußen bleiben?«
»Ja, aber die Monster kommen trotzdem herein.« Polly wirft die Puppe auf den Boden und tritt mit dem Fuß nach ihr. »Das ist, weil sie so böse ist.«
Felicity hebt die Puppe auf und wischt den Schmutz aus ihrem Gesicht. »Ich hatte einmal eine Puppe wie diese. Und sie haben auch gesagt, sie sei böse. Aber das war sie nicht. Sie war eine brave und treue Puppe. Und genauso ist deine, Polly.«
Die Lippen des kleinen Mädchens zittern. »Aber sie lügt.«
»Die Welt lügt«, flüstert Felicity. »Nicht du und ich.«
Sie gibt dem Kind die Puppe und Polly drückt sie zärtlich an ihre Brust.
»Eines Tages werde ich eine reiche Frau sein, Polly. Ich werde in Paris leben, ohne Papa und Mama, und du könntest kommen und bei mir wohnen. Möchtest du das?«
Das Kind nickt und nimmt Felicitys Hand und sie gehen zusammen den Weg entlang mit trotzigen Gesichtern und frischen Wunden.
24. Kapitel
Die Hippokrates-Gesellschaft hat ihren Sitz in einem reizvollen, wenn auch leicht heruntergekommenen Gebäude in Chelsea. Der Butler nimmt uns unsere Mäntel ab und führt uns durch einen weitläufigen Salon, wo mehrere Herren sitzen, Zigarren rauchen, Schach spielen und sich über Politik unterhalten. Anschließend betreten wir die größte Bibliothek, die ich je gesehen habe. Eine Anzahl wahllos zusammengewürfelter Sessel füllt die Ecken aus. Einige sind um das lodernde Feuer gruppiert, als hätte dort soeben eine angeregte Debatte stattgefunden. Die Perserteppiche sind schon so alt, dass sie an manchen Stellen durchgetreten sind. Jedes einzelne Regal ist mit Büchern vollgestopft: Medizinische Aufsätze, naturwissenschaftliche Studien, Bände in griechischer und lateinischer Sprache sowie englische Klassiker reihen sich aneinander. Ich könnte wochenlang hier sitzen und lesen.
Dr. Hamilton begrüßt uns. Er ist ein Mann von siebzig Jahren mit weißem Haar, das sich nur noch in dünnen Strähnen über seinen Scheitel zieht. »Ah, da sind Sie. Gut, gut. Unser Freund hat ein wundervolles Fest vorbereitet. Wir wollen ihn nicht warten lassen.«
Wir sitzen zu zwölft am Tisch, eine bunte Mischung aus Medizinern, Schriftstellern, Philosophen und ihren Gattinnen. Die Unterhaltung ist lebhaft und faszinierend. Wir sprechen über Naturwissenschaft und Religion, über Bücher und Medizin, über die gesellschaftliche Saison ebenso wie über Politik. Aber es ist Vater, der mit seinem Witz und mit seinen Geschichten von Indien das eigentliche Kommando am Tisch führt.
»Und dann ist da die Geschichte von dem Tiger, aber ich fürchte, ich habe Ihre Aufmerksamkeit schon zu lange in Anspruch genommen«, sagt Vater, nun wieder mit diesem lustigen Zwinkern wie früher.
Die Neugier der Gäste will gestillt werden. »Ein Tiger!«, rufen sie. »Aber das müssen Sie uns unbedingt erzählen.«
Erfreut beugt Vater sich vor. Seine Stimme nimmt einen geheimnisvollen Ton an. »Wir hatten für einen Monat ein Haus in Lucknow gemietet, um der Hitze in Bombay zu entfliehen. Unsere Gemma war noch nicht älter als sechs. Sie spielte mit Vorliebe im Garten, der an den Dschungel grenzte, während unsere Haushälterin Sarita die Wäsche aufhängte und aufpasste. In jenem Frühling verbreitete sich von Dorf zu Dorf das Gerücht, ein
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