Karwoche
Zeitlupe ins Bild gefahren ist und wieder zurück – das war vermutlich ein metallicgrauer Mercedes M-Klasse.«
»Wie viele gibt’s davon?«
»Viele. Einer gehört Dieter Millruth. Zumindest ist so ein Wagen auf ihn zugelassen.«
»Interessant.«
»Wenn du dich langweilst, kannst du ja zu den Millruths fahren. Ich muss mich hier leider um die SoKo kümmern.«
»Ich wollte da ohnehin ein paar Sachen klären. Vielleicht komm ich morgen kurz rein. Dann sag ich dir, was rausgekommen ist.«
»Du glaubst, du kommst morgen mal
kurz
rein?«
»Ja. Was soll dieser ironische Blick?«
Kapitel 28
D er Prozess hatte nur zwei Tage gedauert. Die zwanzigjährige Leni Millruth, Tochter des Schauspielerehepaars Katharina und Dieter Millruth, war am ersten Weihnachtstag in den frühen Morgenstunden mit einer Schrotflinte erschossen worden. Der Angeklagte hatte in der Nacht Geräusche gehört, war aufgestanden und hatte eine Jagdflinte aus dem Waffenschrank genommen. Die Geräusche seien aus dem ehemaligen Pferdestall gekommen. Da in den vergangenen Wochen mehrfach versucht worden war, auf dem Grundstück einzubrechen, habe er vermutet, dass die Diebe dieses Mal Grundstücksmauer und Alarmanlage überwunden hatten und in das Wirtschaftsgebäude eingedrungen waren. Dort lagerten größere Mengen antiker Möbel, zum Teil wertvoll. Die Tür zum Stall habe offen gestanden, es habe aber kein Licht gebrannt. Der Angeklagte betrat leise den Stall und konnte sehen, dass sich im Dunkeln jemand bewegte. Er sprach die Person an und forderte sie auf, sich zu ergeben. Die Person habe aber nicht geantwortet, sondern sich umgedreht. Ihr Gesicht sei wegen der schlechten Lichtverhältnisse nicht zu erkennen gewesen. Im Schein des von außen einfallenden Mondlichts habe der Angeklagte deutlich ein Gewehr gesehen, das die unbekannte Person in der Hand hielt und auf den Angeklagten richtete. Er habe es daraufhin mit der Angst zu tun bekommen und sein Gegenüber aufgefordert, die Waffe fallen zu lassen, was der Angesprochene aber nicht getan habe. Vielmehr habe der andere die Waffe gehoben. Darauf habe der Angeklagte geschossen. Die unbekannte Person sei sofort zusammengesunken. Erst als der Angeklagte das Licht einschaltete, habe er erkennen können, dass es sich bei der anderen Person um Leni Millruth handelte. Sie hielt eine Jagdbüchse in der Hand. Die Schrotladung hatte der jungen Frau Brust und Bauchraum zerfetzt. Der Tod war sehr schnell durch Herzstillstand eingetreten.
Der Angeklagte habe nach der Tat unter Schock gestanden und sei nicht in der Lage gewesen, angemessen zu reagieren. Er habe das Gewehr, das seine Nichte in der Hand hielt, in den Gewehrschrank gestellt. Gegen acht Uhr dreißig entdeckte Katharina Millruth die Leiche ihrer Tochter und verständigte die Polizei. Kurz nachdem die Beamten eingetroffen waren, legte der Angeklagte ein umfassendes Geständnis ab.
Die Angaben des Angeklagten wurden von den anderen Familienmitgliedern bestätigt. Demnach hatten im Vorfeld tatsächlich etliche Einbruchsversuche stattgefunden. Das Verhalten des Opfers erklärte sich daraus, dass Leni Millruth am Borderline-Syndrom litt und sich seit mehreren Monaten in therapeutischer Behandlung befand. Ein neutraler Sachverständiger bestätigte, dass Borderline-Patienten äußerst suizidgefährdet seien. Es sei nicht auszuschließen, dass sich das Opfer in suizidaler Absicht mit der Jagdbüchse in den ehemaligen Stall begeben hatte. Die Reaktion auf die Ansprache durch den Angeklagten könnte so erklärt werden, dass es die junge Frau möglicherweise darauf abgesehen hatte, vom Angeklagten erschossen zu werden.
Das Gericht tat sich nicht leicht mit der rechtlichen Beurteilung des Falles. Notwehr lag objektiv betrachtet nicht vor. Jedenfalls ging das Gericht nicht davon aus, dass das Opfer den Angeklagten erschießen wollte. Dennoch hatte der Angeklagte Grund, eine Notwehrsituation anzunehmen. Es blieb die Tatsache, dass ein psychisch krankes Mädchen mit einer Schrotflinte erschossen worden war. Offenbar widerstrebte es dem Gericht, den Angeklagten freizusprechen. Andererseits machte er den Eindruck, selbst am meisten unter den tragischen Ereignissen zu leiden. Der Angeklagte wurde schließlich wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Wolfgang Millruth nahm die Strafe mit sichtlicher Verzweiflung an und verzichtete auf Rechtsmittel.
Kapitel 29
D er Parkplatz vor dem Haus war voll, als
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