Kasey Michaels
Sie sei auch nicht besser als
jene unglücklichen Geschöpfe, um die ihre Tante sich kümmere.
Selbst
während des Trauergottesdienstes konnte Lydia die Gedanken nicht von Jasmines
neuer Rolle als Büßerin abwenden, und je länger sie darüber nachdachte, desto
weniger geheuer war es ihr. Würde sie denn nie vergessen können, wie leicht
Jasmine das Lügen fiel? Oder war sie nur kleinlich und nachtragend wegen der
Sache mit den Zimtschnecken?
Eine
hässliche Vorstellung, dennoch beschäftigte sie diese Frage seit jener
überraschenden Eröffnung, sodass sie noch stiller als gewöhnlich war.
Der Tag war
ausnahmsweise schön, und als sie im warmen Sonnenschein zurück zum Herrenhaus
schritten, flüsterte Tanner ihr
ins Ohr: „Du fehlst mir. Ist es sehr selbstsüchtig von mir, wenn ich dich
bitte, mit mir eine kleine Wanderung zu machen? Weißt du, ich möchte meinen
Kopf klären, und das gelingt mir nie besser, als wenn ich durch die Hügel
streife.“
Sofort
erinnerte Lydia sich daran, wie sie bei ihrer Anreise gemeinsam von dort oben
auf Malvern hinuntergeschaut hatten. „Ja, gerne, lass uns das tun“,
stimmte sie leise zu. „Soll ich die neuen Stiefel anziehen?“
Sein
Lächeln sprach Bände.
Während der
Pfarrer immer noch über dem obligatorischen Beerdigungsmahl saß und Fragen der
höllischen Verdammnis diskutierte, die Justin, wie Lydia überzeugt war, aus
purer Bosheit aufgebracht hatte, wanderten Tanner und sie durch den Park
hinaus zu dem Pfad, der ins Hügelland hinaufführte.
„Hier unter
einem Stein am Rand der Staudenbeete sollte Jasmine, ehe sie nach London
aufbrach, den Schlüssel zu deinem Arbeitszimmer verstecken“, sagte Lydia,
die leider nie ganz ausblenden konnte, was das Mädchen ihr alles erzählt hatte.
„Obwohl alles anders gekommen wäre, wenn sie sich daran gehalten hätte?“
„Wer weiß?
Das unter anderem werde ich jedenfalls Flanagan fragen, wenn ich ihn morgen im
Gefängnis aufsuche. Nach dem Gottesdienst nahm mich der Dorfvorsteher beiseite,
um mir zu sagen, dass der Bursche mich unbedingt sprechen will.“
Inzwischen
spazierten sie über den von Bäumen überschatteten, stetig ansteigenden Pfad
entlang, und Tanner half ihr hier und da über dicke, aus dem Boden ragende
Wurzeln hinweg. „Glaubst du, er wird das Versteck der Juwelen verraten?“
„Um seinen
Hals zu retten? Mag sein. Und mich würde interessieren, warum er sie nicht
einfach nahm und sich aus dem Staub machte.“
„Malverns
Pracht“, erklärte Lydia. „Ehe er deinen Cousin umbrachte, hat er aus ihm
herausgebracht, wo der Schatz ist, meint Justin.“
„Und wollte
dann nicht mit ihm teilen, wie typisch unter Dieben.“
Als Lydia
ihn anschaute, sah sie den Schmerz in seiner Miene. Um ihn abzulenken fragte
sie: „Erzähl mir mehr über Malvern. Wie ist es hier im Winter?“
„Ah, im
Winter! Dann bedeckt der Schnee alles wie ein weißer Teppich. Die tief
stehende Sonne scheint zwischen den kahlen Zweigen hindurch ... die Bäche
glitzern im Licht und sind klar und eiskalt, und das Rotwild kommt manchmal bis
in den Park. Wenn man früh genug erwacht, kann man sie dann vom Bett aus äsen
sehen.“ Er legte ihr einen Arm um die Schultern. „Und wenn der Schnee hoch
genug liegt, lasse ich den Schlitten anspannen. Dann mummele ich dich mit
warmen Decken ein, du bekommst einem heißen Ziegel für deine Füßen, und wir
fahren durch die sternklare, mondhelle Nacht in ein Wunderland, das zum Weinen
schön ist.“
„Wie
wundervoll das klingt!“
„Du bist
viel wundervoller, Liebste. Wir werden auf Malvern leben und unsere Kinder
aufwachsen sehen, aber meine Welt bist du. Ich will nur das alles hinter uns
bringen, und zur Hölle mit ‚Malverns Pracht‘ und sämtlichem anderen Schmuck.
Lydia, ich
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