Kasey Michaels
ihrem
Lebensschiff war Nicole der Wind in den Segeln gewesen, sie selbst der Anker,
wie Lydia oft dachte. Was allerdings ihre Schwester verächtlich abzutun pflegte
mit den Worten, Lydia sei der Steuermann, der sie beide in ruhigem Gewässer
halte und sie daran hindere, sich mit ihrem verrückten Ideen ständig zum Narren
zu machen. Aber Lydia wusste, dass Nicole das nur aus Nettigkeit sagte.
Denn wie
alle anderen wussten, steckte in der ganzen Lady Lydia Daughtry nicht ein
Quäntchen Aufregendes. Sie war ruhig, freundlich, hielt sich an die Regeln und
verursachte niemals auch nur den geringsten Ärger. Ihrer Meinung nach war ein
Türstopper aufregender als sie und bestimmt interessanter, denn auf den wurde
man wenigstens aufmerksam, wenn man darüber stolperte und sich den Zeh stieß.
War Nicole
im Raum, bemerkte niemand Lydias Anwesenheit. Das strahlende Lächeln ihrer
Schwester, das herrliche rabenschwarze Haar, ihre glänzenden Augen und ihre,
nun ja, femininen Rundungen zogen alle Aufmerksamkeit auf sich. Selbst ihre
Sommersprossen waren ein Blickfang, sodass Lydia, blond, blauäugig, zart
gebaut, daneben verblasste. Und genau so gefiel es ihr.
Doch nun
war ihr Schutzschild fort.
Sie hatte
gewusst, dass der Tag kommen würde. Dann jedoch hätte der gestandene, sanfte
Captain Swain Fitzgerald ihr Schutz, ihr sicherer Hafen sein sollen.
Nur dass
Captain Fitzgerald vor einem Jahr bei Waterloo gefallen war. Sein Tod hatte sie
beinahe zerstört, denn sie hatte ihn mit ihrem ganzen jungen Herzen geliebt.
Hatte ihn auf eine Weise geliebt, die keiner ihrer Lieben verstehen würde. Sie
hatte gedacht, dass sie in dem Captain denjenigen gefunden hätte, der ihr
erlauben würde, nie aus ihrem Kokon schlüpfen und sich allein der Welt stellen
zu müssen.
Was ihr
bewies, dass sie anders war, als man von ihr glaubte. Nämlich sehr
selbstsüchtig. Vielleicht hatte sie die Liebe und Zuwendung des Captains gar
nicht verdient gehabt.
Wenn sie
theatralisch veranlagt wäre, könnte sie vielleicht gar glauben, dass Gott ihr
den Captain als Strafe für diese Selbstsucht nahm. Doch Gott würde nicht
jemandem das Leben nehmen, um einem anderen eine Lehre zu erteilen, oder?
Nun aber,
da beinahe ein Jahr seit dem Tod des Captains vergangen war, zweifelte Lydia
im Stillen immer wieder einmal an ihrer Liebe zu ihm. Wie sehr hatte sie ihn
wirklich geliebt? Und wie viel davon war nur die Liebe ins Verliebtsein gewesen
und in das Gefühl, bald stets behütet und beschützt zu sein? Sie war erst siebzehn
gewesen, und der Captain selbst hatte sie in seinen Briefen daran erinnert und
ihr versprochen, sehr behutsam um sie zu werben, wenn der Krieg erst vorbei und
er wieder zurück in der Heimat wäre.
Den größten
Teil ihres Lebens waren sie, Nicole und ihr Bruder Rafe zwischen ihrem Heim auf
Willowbrook und dem Landsitz des verstorbenen Duke of Ashurst hin und her
gekarrt worden – was von der Laune und dem jeweiligen ehelichen Status ihrer
Mutter abhing. Nicole war diesem Nomadendasein mit Trotz und Auflehnung
begegnet, Rafe war in den Krieg gezogen und hatte gegen Napoleon gekämpft. Bei
seiner Heimkehr erfuhr er dann, dass sein Onkel, der Duke, und dessen Söhne
gestorben waren und er selbst den Titel geerbt hatte.
Und Lydia?
Sie hatte sich nie beklagt, hatte sich hinter ihren Büchern und hinter Nicoles
wärmendem Glühen versteckt, ohne jedoch den Schmerz weniger zu spüren, von
ihrer Mutter nicht geliebt und von ihrem Onkel nur geduldet zu werden.
Und daher
hatte sie sich zu dem Captain hingezogen gefühlt, der Rafes bester Freund und
Kamerad war. Er war älter, lebenserfahrener als sie, stark und gelassen, und
er hatte hinter ihre
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