Kassandra Verschwörung
beschlossen oder ihm eine andere Bestrafung auferlegt werden würde. Vielleicht endete er als Straßenkehrer. So nervös wie jetzt war er zum letzten Mal als Schuljunge gewesen, als man ihn beim Schwänzen erwischt hatte und er vor dem Büro des Direktors warten musste. Damals hatten das Schuldgefühl und die Scham, erwischt worden zu sein, an ihm genagt. Jetzt jedoch war er, so unbehaglich er sich auch fühlen mochte, zugleich auch zufrieden. Er hatte ein paar Tage richtiges Abenteuer erlebt, und wenn er die Uhr zurückdrehen könnte, würde er das Gleiche wieder tun. Er gestattete sich ein Lächeln. Vielleicht hatte Mrs. Parry recht und Dominic Elder war tatsächlich einer dieser Typen, die sich ihrer Mitarbeiter bedienten und sie dann fallen ließen. Barclay berührte das wenig.
Im Lauf des Vormittags hatte er dreimal versucht, Dominique zu erreichen, doch vergebens. Die internationale Vermittlung konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Er fragte sich, ob ihr Telefon ausgestöpselt war und wenn ja, warum. Auf Parrys Wunsch hin hatte er der Profiling-Abteilung eine Kopie seines Berichts zukommen lassen. Vielleicht konnten die Psychologen etwas damit anfangen. Aber irgendetwas war da noch, das er Joyce Parry hatte erzählen oder fragen wollen. Es nagte seit Tagen in seinem Hinterkopf – hatte ihn bereits vor seinem Deutschlandtrip beschäftigt, möglicherweise sogar schon vor Paris.
Er verbannte den Gedanken aus seinem Kopf. Wenn er nicht mehr darüber nachgrübelte, würde es ihm schon wieder einfallen. Er starrte die Wand über seinem Schreibtisch an: den boshaften Valentinsgruß, die Anweisungen zum Verhalten im Brandfall und das Zitat, das dort auf einem Merkzettel stand: dieser Zufall, den wir Leben nennen.
Er griff in seinen vollen Eingangskorb: Berichte, die gelesen, klassifiziert und weitergeleitet werden mussten. Sein täglich Brot. Er hatte sich einen Scheißjob eingehandelt; er sollte Schlüsselworte zusammenstellen. Es war eine wenig bekannte Tatsache, dass nicht nur die Technologie vorhanden war, um Telefone abzuhören, sondern dass man auch gezielt Gespräche anzapfen konnte, in denen bestimmte Worte fielen: Schlüsselworte. Es war ein Wunder der Computertechnologie, doch die Fehlerquote lag sehr hoch. Das Wort »Mord« etwa würde während eines Telefonats zwischen zwei Terroristen vermutlich nie fallen, wohingegen es bei einer harmlosen Plauderei unter Nachbarn sehr wohl auftauchen konnte. Und das Wort »Gipfel« stellte ebenfalls ein Problem dar, weil es in der Form »Das ist ja wohl der Gipfel« ein Homonym für unerhört war. Ja, es war eine sehr fehleranfällige Technologie, aber dennoch von potenziell unschätzbarem Wert.
Gegenwärtig stellte ihn das Wort »Hexe« vor ein solches Problem, da auch dies in ganz normalen Telefonaten verwendet wurde, zum Beispiel wenn Freundinnen über eine andere Frau lästerten. Auf Dominic Elders Wunsch war »Hexe« ebenfalls als Schlüsselwort aufgenommen worden; sie griffen nach jedem Strohhalm.
Barclays Aufgabe war es, die Informationen, die ihm die Schlüsselwort-Technologie lieferte, zu analysieren, was im Klartext bedeutete, die Anrufer zu überprüfen, die eines der Schlüsselworte verwendeten. Es war eine Menge Arbeit, die er aber nicht allein zu bewältigen hatte. Einige seiner Kollegen gaben ebenfalls Telefonnummern in ihre Computer ein und checkten, ob es sich bei irgendeinem der Anrufer um einen bekannten Sympathisanten einer terroristischen Gruppierung oder einen verdächtigen Ausländer oder sonst einen aus irgendeinem Grund Verdächtigen handelte. Viel Arbeit und jede Menge vergebliche Mühe. Nach allem, was er inzwischen über sie wusste, konnte Barclay sich nicht recht vorstellen, dass die Hexe zum Telefonhörer griff und sagte: »Hallo, hier spricht die Hexe. Es geht um den Mordanschlag, den ich während des Gipfels verüben werde...« Er begann, die Informationen für seine erste Überprüfung in den Computer einzugeben.
»Barclay.«
Joyce Parrys Stimme. Als er sich umdrehte, war sie bereits wieder in ihrem Büro verschwunden. Na gut, das war’s dann wohl. Er holte tief Luft, stand auf und wunderte sich, dass seine Beine nicht unter ihm wegsackten. Er steuerte ihre Bürotür an und klopfte. Sie bat ihn hereinzukommen. Sie las gerade irgendwelche Papiere, die auf ihrem Schreibtisch lagen. Bevor sie zu sprechen begann, nahm sie ihre Brille ab.
»Mr. Elder möchte, dass Sie ins Konferenzzentrum kommen«, sagte sie beiläufig.
»Wie bitte?
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