Kassandra Verschwörung
fuhr langsam die Strandpromenade entlang und wieder zurück und nahm dabei die Gesichter ins Visier. Die Welt änderte sich: Die Zeit drehte sich zurück. Es war wie in den 1920er und 30er Jahren oder sogar wie in der von Dickens beschriebenen Viktorianischen Zeit. In London hatte er etwas gesehen, das er bisher nur aus amerikanischen Fernsehfilmen kannte: junge Männer – überwiegend Schwarze -, die an Ampeln warteten, dass diese auf Rot schalteten, um den Leuten die Windschutzscheibe zu putzen und dafür anschließend Geld zu verlangen. Eine Gruppe hatte sogar ein Sofa am Straßenrand aufgestellt, damit sie es sich während der Grünphasen bequem machen konnte. Wie viel sie wohl verdienen? Er war ohne sein Auto nach London gekommen. Ein Auto hätte ihn vor den schlimmsten Auswüchsen dieser neuen Armut bewahrt, vor den Bettlern, die in den Fußgängertunneln auf ihn warteten, vor den Straßenmusikanten in den U-Bahnen, vor den Pappkartons, die das Zuhause von Menschen geworden waren. Vor diesen deprimierenden Wogen: »Hat jemand ein bisschen Kleingeld übrig. Ein bisschen Kleingeld, bitte. Haben Sie ein bisschen Kleingeld für mich?« Und vor den Lumpensammlern, die auf den Müll der Gesellschaft warteten.
Nachdem er zweimal der ganzen Länge nach die Promenade abgefahren war, steuerte er schließlich in der Nähe einer Gruppe Jugendlicher den Straßenrand an und kurbelte sein Fenster herunter.
»He!«, rief einer von ihnen. »Da ist ein Freier, der nach einem knackigen Arsch Ausschau hält! Los, Chrissy, geh hin, und red mit ihm.«
Der Typ, der Chrissy gerufen wurde, spuckte auf den Boden und warf Elder einen finsteren Blick zu.
»Ich suche die Kirmes!«, rief Elder aus dem Wagen. »Gibt es zurzeit eine Kirmes in der Stadt?«
»Du bist doch in Wahrheit hinter kleinen Jungs her, gib’s zu! Wir kennen solche Typen wie dich, stimmt’s, Jungs?« Die Jugendlichen grinsten auf diese Bemerkung hin, und Elder versuchte, das Grinsen zu erwidern, als ob er den dummen Spruch ebenfalls lustig fände.
»Ich bin nur auf der Suche nach der Kirmes«, stellte er klar und ließ es nach einem keineswegs unvernünftigen Anliegen klingen.
»Marine Parade«, sagte einer aus der Gruppe und deutete mit einer Hand, die eine Dose Bier hielt, in Richtung Palace Pier.
»Ja«, entgegnete Elder, »aber das ist eine Ganzjahreskirmes, soweit ich weiß. Ich bin auf der Suche nach einer Wander kirmes.«
»Entschuldigung, dass ich was gesagt habe. Komm, rück fünf Pfund für ein paar Pommes raus, Alter.« Der Jugendliche schlurfte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
Elder seufzte und gab ihm eine Fünfpfundnote.
»Die Kirmes«, sagte er.
Der Jugendliche grinste. »Oben in The Level gibt es eine Kirmes. Weißt du, wo das ist?«
Ja, Elder wusste es. Er war auf dem Weg zur Küste daran vorbeigefahren. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, eine Kirmes gesehen zu haben, aber er hatte dort ja auch nicht wirklich danach Ausschau gehalten.
»Danke«, sagte er und fuhr los. Hinter ihm fächerte sich der Jugendliche mit dem Geldschein Luft zu. Seine Kumpel umringten ihn bereits wie die Schakale.
Die Seeseite von Brighton bedeutete vor allem Kieselstrand, eine ständige Brise, Karussells und Tagesausflügler. Doch weiter den Stadthügel hinauf, am Royal Pavilion und an den Geschäften vorbei, gab es einen großen, von zahlreichen Wegen durchzogenen Park, der The Level hieß. Die Einheimischen führten dort ihre Hunde aus, Kinder kreischten auf Schaukeln, und jedes Jahr kam eine Kirmes. Er wunderte sich, dass er sie übersehen hatte. Es gab nicht so viele Stände und Fahrgeschäfte wie erwartet. Die üblichen Waltzer-Bahnen, Autoscooter und Schießbuden, eine Geisterbahn, Kinderkarussells und Hotdogbuden. Aber kein Riesenrad und Divebomber, nichts, das man als große Attraktion bezeichnen konnte. Die Marine Parade hatte der Wanderkirmes die Show gestohlen.
Und alles war geschlossen, bis auf ein paar Kinderkarussells, die kümmerliche Geschäfte machten. Auf einem der Karussells, das von einer missmutig dreinschauenden Frau betrieben wurde, schwang ein Affe auf und nieder. Der Reiz schien darin zu bestehen, dass ein Kind, dem es gelang, dem Affen den Schwanz abzureißen, eine Freifahrt erhielt. Die eigentliche Kirmes würde erst später am Tag den Betrieb aufnehmen. Er parkte Doyles Auto in sicherer Entfernung des Geländes – er wollte nicht riskieren, dass irgendwelche Hände es mit Zuckerwatte beschmierten – und ging dann
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