Kater mit Karma
Krankenhauskorridore. Ich erwartete halb, von einer der streitlustigen Krankenschwestern, wie sie früher gerne mit einer Stoppuhr in der Hand über die Einhaltung der Besuchszeiten auf der Entbindungsstation wachten, aufgehalten zu werden. Aber diese alten Jungfern waren zusammen mit ihren Klistierbeuteln längst verschwunden.
Das Krankenhaus befand sich im frühmorgendlichen Dämmerzustand. Kein Klappern von Rollwagen oder Frühstückstabletts war zu hören. Raschen Schrittes näherten wir uns Zimmer A24. Um die Ecke sahen wir einen alten Inder auf einem Stuhl sitzen, auf den Knien einen kleinen Jungen. Die Augen in dem von Falten zerfurchten Gesicht waren trübe vom Alter, aber er strahlte. Mit weit über achtzig blieben ihm nicht mehr viele Jahre, aber seinem Alter war alle Traurigkeit genommen durch den kleinen Menschen, um den sich hinter einer dieser Türen seine Tochter (oder vielleicht auch Enkelin) kümmerte. In dem Moment wurde mir bewusst, wie schön eine Entbindungsstation im Vergleich zu den trostlosen anderen Stationen eines Krankenhauses war.
Vor Aufregung schon ganz ungeduldig fanden wir endlich Zimmer A24 und platzten in eine bezaubernde Krippenszene. Chantelle wirkte erschöpft, genau wie Rob, aber sie lächelten voll Stolz und Zärtlichkeit, als wir uns über den winzigen Korbwagen beugten. Mit einem Büschel brauner Haare auf dem runden Köpfchen und den weit gespreizten spitzen Fingerchen war Annie unter ihrer rosa-weißen Decke eine kleine Schönheit.
Ich nahm das federleichte Bündel das erste Mal auf den Arm, studierte sein Gesicht und dachte, dass viele hunderttausend Menschen Teil dieses neuen Menschen waren. Einige von Annies Zügen kamen mir bekannt vor: ihre mandelförmigen Augen ähnelten denen von Rob nach seiner Geburt, und ihren kleinen Kussmund konnte sie glatt meiner Mutter gestohlen haben. Gleichzeitig sprach jedoch auch Stärke aus ihren Zügen – ein Erbe der vielen Frauen in meiner Familie, die keine Angst gehabt hatten, gegen die Strömung zu schwimmen.
Wie gebannt von dem kleinen Gesichtchen, hätte ich sie stundenlang betrachten können, aber hinter mir wartete eine ganze Schlange von Leuten, die Annie unbedingt auf den Arm nehmen und in ihrem Leben willkommen heißen wollten. Ich küsste sie auf die Stirn und gab sie vorsichtig ihrer Tante Lydia weiter.
»Pass auf, dass du sie richtig hältst«, sagte ich. »Du musst …«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Lydia und lächelte ihre Nichte zärtlich an. »Ihren Kopf stützen.«
Meine ältere Tochter überraschte mich doch immer wieder. Woher wusste sie, wie man ein Baby hielt? Vielleicht hatte sie auch das bei ihrer Arbeit mit Behinderten oder in dem Waisenhaus in Sri Lanka gelernt.
Während Lydia den Säugling betrachtete und ihm zärtlich über den Kopf streichelte, musste ich an mein Lieblingsbild von Leonardo da Vinci denken, den Karton, den er um 1500 herum gezeichnet hatte und den man in der National Gallery in London sehen kann. In Lydias Miene erkannte ich die der Jungfrau Maria und der heiligen Anna wieder, die das Christuskind bewundern.
Das Motiv von Leonardos Bild war göttlicher Natur, aber er hatte ganz normale Frauen als Modell gehabt. Mir wurde warm ums Herz, als ich sah, wie ebendiese Mütterlichkeit, die er in den beiden Schönheiten vor sechshundert Jahren zum Ausdruck gebracht hatte, sich auf dem Gesicht einer jungen Frau in einem Krankenhaus des 21. Jahrhunderts widerspiegelte. Bei all den sogenannten Fortschritten hatte sich der Mensch im Grunde nicht verändert.
Versunken wiegte Lydia das kleine Bündel in ihren Armen. Letztlich hatte ein ausgeprägter Mutterinstinkt sie dazu gebracht, sich um die Schwachen und Kranken zu kümmern, die Welt besser machen zu wollen. Vielleicht war sie eines Tages bereit dazu, diese großen Ideale hintanzustellen und sich einen verständnisvollen Mann zu suchen und ein eigenes Kind zu haben.
Während ich mir noch diese mönchs- und klosterfreie Allerweltszukunft für Lydia ausmalte, drehte sie sich zu den erschöpften Eltern um.
»Habt ihr etwas dagegen, wenn ich für sie singe?«, fragte sie.
31.
Dankbarkeit
Urteile nicht über Katzen und Töchter – wenn du es vermeiden kannst.
Während sich Rob und Chantelle an das rigorose Programm des nächtlichen Stillens und Enträtselns der Bedürfnisse ihrer winzigen Tochter gewöhnten, dachte ich über die Unglaublichkeit des Elternseins nach. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann nicht begreifen, wie grundlegend es
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