Kater mit Karma
Uns allen klappte der Unterkiefer herunter. Meine schöne Tochter war völlig kahl. Ihr Gesicht wirkte ohne Haare auf einmal winzig.
Sie hatte in letzter Zeit so hübsch ausgesehen. Wir hatten gutes Shampoo gekauft. Ich hatte ihr meinen Föhn geliehen und jeden Morgen sein beruhigendes Brummen aus dem Bad gehört.
»Deine Haare!«, keuchte ich schließlich.
Ich fragte mich, ob sie damit ein Statement abgeben wollte – oder ob es etwas Schlimmeres war.
»Cool!«, zirpte Katharine, wie immer bemüht, keinen Unfrieden aufkommen zu lassen. »Hat’s weh getan?«
Lydia schüttelte das blasse hartgekochte Ei, zu dem ihr Kopf geworden war. Vulkanartig brachen wieder die alten Ängste in mir hervor.
Was sie auch dazu gebracht haben mochte, ich wusste, dass ich mich zügeln musste. Jede heftige Reaktion von meiner Seite würde sie nur weiter in die einmal eingeschlagene Richtung treiben.
»Wow!«, sagte Katharine und strich über die Glatze ihrer Schwester. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe mir einen elektrischen Rasierapparat ausgeliehen.«
»Hat dir jemand geholfen?«, fragte Kath.
»Nein. Ich hab’s selbst gemacht.«
»Von wem hattest du den Rasierapparat?«, fragte ich, als hätte das irgendeine Bedeutung.
»Von einem Freund«, erwiderte Lydia ausweichend und machte damit deutlich, dass sie keine Lust hatte, weitere Fragen zu beantworten. Ich stellte mir vor, wie ein wahrer Wasserfall goldglänzender Haare auf den Boden der Wohnung »Von einem Freund« fiel.
»Viele Männer haben einen elektrischen Rasierapparat, oder, Lyds?«, kam Katharine ihrer Schwester zu Hilfe.
»War es der von Ned?«, fragte ich und hoffte fast, dass sie wieder mit ihm zusammen war.
»Nein, er wird bald heiraten.«
Kaum hatte ich begonnnen, die Möglichkeit zu erwägen, dass sie sich den Kopf in Reaktion auf seine Hochzeit geschoren haben könnte, fügte Lydia, als hätte sie meine Gedanken gelesen, hinzu, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie sei erleichtert, sogar froh, dass er jemanden gefunden hatte.
Das letzte Mal hatte ich ihren Kopf in seiner ganzen nackten Schönheit gesehen, als sie ein Baby war und den ersten dunklen Flaum verloren hatte, mit dem sie zur Welt gekommen war. Sie besaß einen wohlgeformten Kopf, rund, mit einem hübschen Knick am Hals und flach anliegenden Ohren. Aber selbst damals hatte ich sehnsüchtig darauf gewartet, dass sie Haare bekam.
Jetzt glänzte der Kopf meiner Tochter unter den Halogenlampen. Sie erinnerte mich an die Büste der Nofretete. Sie wirkte so … verletzlich.
»Hast du das wegen einer Spendenaktion gemacht?«, fragte ich, bemüht, locker zu klingen.
»Nein. Ich gehe zurück ins Kloster.«
Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Durch meine Krankheit und die Gartenaktion waren Lydia und ich uns wieder nähergekommen. Die Intensität ihrer spirituellen Neigungen hatte mich zwar beunruhigt, aber bis zu einem gewissen Grad verstand ich sie. Diese Ankündigung jedoch weckte alle meine alten Ängste, dass ich sie verlieren könnte, und schlimmer noch, dass Lydia sich selbst verlieren könnte.
Philip zeigte keine Reaktion. Jonah blinzelte von seinem Schoß hoch. Katharine las plötzlich interessiert in einer uralten Zeitschrift.
Meine Tochter war kahl, strenggläubig und zum dritten Mal auf dem Weg ins Kloster. Das konnte nur eines bedeuten.
»Hast du dich entschieden, Nonne zu werden?«, fragte ich.
»Weiß ich noch nicht«, erwiderte sie. »Ich will es erst mal eine Weile ausprobieren.«
Ich fragte sie, was sie mit »einer Weile« meinte. Ein paar Wochen? Monate? Ein Leben lang?
Sie wisse es noch nicht genau, antwortete sie. Immer dieses »schwer zu erklären« oder »ich weiß nicht«, wie ich das hasste.
»Willst du nicht warten, bis du dein Studium abgeschlossen hast?«, fragte ich.
»Ach, das eilt nicht«, erwiderte sie leichthin.
Ich hatte gedacht, sie hätte ihre rebellische Phase abgeschlossen. Außerdem wusste ich genau, wer hinter diesem Plan steckte. Der Mönch. Warum konnte sie mir gegenüber nicht ehrlich sein?
Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, und überlegte, worum es ihr eigentlich ging. Sich um Behinderte kümmern und vegetarisch ernähren war gut und richtig. Sich den Kopf rasieren und buddhistische Nonne werden war dagegen jenseits dessen, was man noch normal nennen konnte. Wollte sie etwa eine Heilige des angehenden einundzwanzigsten Jahrhunderts werden?
Ich hatte einiges über Heilige gelesen. Oft kamen sie aus
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