Kater mit Karma
mich und las mir Entführt – Die Abenteuer des David Balfour vor. Sobald sie sich in der altmodischen Sprache zurechtgefunden hatte, schlug uns das Buch in seinen Bann. Kein Wunder, dass die Samoaner Robert Louis Stevenson »Tusi tala« genannt hatten – Geschichtenerzähler. Er ließ die ganzen Hollywood-Drehbuchschreiber alt aussehen. Es tat gut, in eine Welt voller Abenteuer und ganz anders gearteter Gefahren zu entfliehen.
»Alles, was jetzt noch fehlt, ist eine Katze«, sagte Katharine eines Tages, als sie zwischen zwei Kapiteln eine Pause einlegte.
Ich erwiderte ihr Lächeln. Manchmal kann Katharine meine Gedanken lesen. Eine Katze, die sich auf der Bettdecke zusammenrollte, hätte das Bild tatsächlich komplett gemacht. Ein süßes Fellknäuel würde meine Ängste mindern und mir bei allem, was mir bevorstand, ein treuer Begleiter sein. Ein Freund an meiner Seite, selbst wenn das Haus leer war.
Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine neue Katze. Ich hatte schon genug am Hals.
Die Psychologin hatte den Teebeutel über den Rand eines halb mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllten Bechers gehängt. Als Erinnerung daran, auch zu trinken, erklärte sie mir. Sonst bekäme sie Migräne.
Kein Wunder , dachte ich, wenn man sich den ganzen Tag das Gejammer anderer Leute anhören muss.
Ich war gewillt, den Besuchen bei einer Psychologin aufgeschlossen gegenüberzustehen, solange sie nicht das Wort »Reise« in den Mund nahm. Heutzutage ist alles eine Reise, von der Besteigung des Mount Everest im Rollstuhl bis zur Enthaarung der Unterarme mit Wachs. »Reise« reduziert alles auf die überschaubaren Dimensionen einer Fernsehserie. Wenn ich eine Brustkrebsreise hätte unternehmen wollen, dann hätte ich mir eine Fahrkarte gekauft.
Glücklicherweise war die Psychologin eine recht pragmatisch verlangte Frau. Sie sagte, ich solle an den Kühlschrank eine Liste der Haushaltspflichten hängen, an die sich Philip und Katharine halten konnten. Sie schlug mir vor, eine Liste von verlässlichen Freundinnen zu erstellen, die während meiner Rekonvaleszenz einmal in der Woche ein fertig gekochtes Essen vorbeibringen würden. Der Gedanke, meinen schwer arbeitenden, gestressten Freundinnen zur Last zu fallen, war mir zuwider. Suppen und Eintöpfe für mich zu kochen war das Letzte, was sie brauchen konnten. War ich zu stolz oder einfach eine Versagerin, was Freundschaften betraf?
Sie zeigte mir Methoden, wie ich mich von negativen Gefühlen distanzieren konnte. Zum Beispiel sollte ich statt »Ich hasse ›The Girl from Ipanema‹« sagen »Ich habe den Gedanken, dass ich ›The Girl from Ipanema‹ nicht ausstehen kann.« Das sollte mir dabei helfen, ein bisschen auf Abstand zu gehen, statt die ganze Zeit einfach nur zu reagieren und solche emotionalen Reaktionen für die Realität zu nehmen. In ähnlicher Weise sollte ich, statt auf Lydia wütend zu sein, weil sie nach Sri Lanka verschwunden war, denken »Ich habe wütende Gedanken, die Lydia betreffen …« etc. Obwohl ich nicht davon überzeugt war, dass die paar zusätzlichen Wörter viel ausmachen würden, konnte der Versuch nicht schaden. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine westliche Version der buddhistischen Vorstellung vom Loslassen. Nach der buddhistischen Lehre entsteht das meiste menschliche Leid durch Bindung. Daran ist sicher etwas Wahres, andererseits ist es die Kraft der Bindung, die Mutterliebe so stark macht. Ohne Bindung würde die menschliche Rasse nicht überleben.
Die Psychologin brachte mir außerdem einen wichtigen neuen Satz bei: »Meine Gesundheit geht vor.«
Meine erste Reaktion war ein gewisses Misstrauen. Seit undenklichen Zeiten einer der Lieblingssätze von Hypochondern und Neurotikern, gibt »Meine Gesundheit geht vor« dem Sprecher die Lizenz zum Nervtöten: »Ich würde deine Meerschweinchen ja wirklich gern nehmen, aber meine Gesundheit geht vor.«
Nichtsdestoweniger lieferte mir der Satz der Psychologin eine Entschuldigung dafür, etwas zu tun, was sowieso anstand – mich von Dingen zu lösen, die die ich nicht mehr tun wollte oder konnte.
Ich hatte dreißig Jahre lang wöchentliche Kolumnen für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Das war genug.
Eine wöchentliche Kolumne zu schreiben ist ein ständiger Drahtseilakt. Ich wurde von Anfang an von der Angst geplagt, dass mir die Themen ausgehen oder meine Kolumnen langweilig werden könnten. Im Lauf der Jahre war der Leistungsdruck immer schlimmer
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