Kater Serano ermittelt 01 - Katzengold
sich fast übergeben hätte. Und dann war Stefan plötzlich aus heiterem Himmel vom Aussichtsturm gefallen. Wie einer der Gummicowboys, die sie früher immer von ihren hölzernen Forts heruntergekippt hatten, um anzudeuten, dass sie erschossen worden waren. Kurz darauf war das Mädchen an ihr vorbeigehetzt. Sie hatte ein paar Sekunden gewartet, schrecksteif, dann war sie zu ihm gegangen. Stefan hatte in einem von mehreren ziemlich tiefen Gräben gelegen und sie angesehen.
»Mit so starren, geweiteten Augen ... Ich dachte, er wäre ...«
Sie sah auf die Stelle der Tischplatte, die einige Stunden vorher schon Selma als Blickfang gedient hatte.
»Ich musste diesen Augen entkommen, sie waren nicht zum Aushalten.«
Es kehrte eine kurze Stille ein.
»Aber warum haben Sie ihm noch in die Tasche gegriffen?«, fragte Marion dann.
»Wegen des Autoschlüssels. Ich musste doch die Kinder am nächsten Tag zur Schule bringen.« Der Anwalt der Berlichs stöhnte leise.
»Schock. Da haben Sie’s.«
»Ist mir klar«, sagte Marion. »Und da beim Schlüssel war auch der Zettel mit meiner Telefonnummer?«
»Ja.«
Susanne Berlich hatte beides an sich genommen und den restlichen Körper ihres Mannes auch begraben. Dann war sie nach Hause gegangen, hatte zwei Schlaftabletten geschluckt und sich ins Bett gelegt. Die Rückkehr von Selma war ihr komplett entgangen.
»Rufst du Liebermann an?«, fragte Marion, als Susanne Berlich in Begleitung ihres Anwalts und einiger Beamter abgefahren war, um ihre Angelegenheiten zu regeln. »Ich würde schon beim Tippen seiner Nummer einschlafen.«
Uwe seufzte. »Meinetwegen. Aber später. Wenn ich richtig informiert bin, liegt Hauptkommissar Liebermann in diesem Augenblick als Jäger auf der Lauer.«
Uwe war richtig informiert und auch wieder nicht.
In grünem Lodencape und Gamsbarthütchen stand Liebermann, sein Holzgewehr im Anschlag, in der Puppenküche, die den rechten Seitenaufgang zur Bühne darstellte, und versuchte, sich auf seinen Text zu konzentrieren.
Es fiel ihm schwer. Kaum zwei Meter weiter links kniete Nico vor einem barocken Spiegel und rief: »Wer ist die Schönste im ganzen Land?« Ralph antwortete aus dem Schrank heraus, an dem der Spiegel angebracht war: »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ...«
Liebermann brach der Schweiß aus. Er hatte sich den ganzen Tag gefreut. Die einzige Stunde, in der er nicht an Nico gedacht hatte, war die von Selmas Befragung gewesen, sonst hatte ihr Bild ihn begleitet wie sein Rücken, der ausgerechnet jetzt einen postrebellischen Aufstand probte. Liebermann hätte sich gern hingelegt, stattdessen starrte er auf die bekannte und doch fremde Frau, die mit schriller Stimme nach dem Jäger rief. Schneewittchen stieß ihm in die Rippen, und Liebermann stolperte vor.
Mit glühenden Augen sprang Nico ihm entgegen. »Liebst du deine Königin?« Liebermann blickte auf ihren karminrot bemalten Mund. Ihm fiel auf, dass sie ihre Rolle ein wenig ausgebaut hatte. »Wie mein Leben, Majestät!«
»Dann nimm dieses unselige Schneewittchen, und dort, wo der Wald am dunkelsten ist, töte sie!« Er verbeugte sich und wandte sich zum Gehen.
»Ach, Jäger!« Er drehte sich wieder um. »Bring mir ihr Herz zum Beweis deiner Treue! Ich will es dir lohnen.« Nicos Lächeln ging ihm durch Mark und Bein. Liebermann verbeugte sich abermals und verließ benommen die Bühne.
Irgendwo hinter ihm legte Ralph, der inzwischen aus dem Schrank gekrochen war, die CD mit den Waldgeräuschen ein. Eine mit Bäumen bemalte Wand wurde vor die Kulisse des königlichen Gemachs gezogen. Schneewittchen packte ihn beim Ärmel und schleifte ihn wieder hinaus, als könne sie es kaum erwarten, erschossen zu werden.
Liebermann spielte seine Rolle, so gut es ging. Aber seine Gedanken schweiften um die grausame Königin.
Er sah nicht Nico, wie sie sich erst in eine Händlerin und schließlich in eine Bäuerin verwandelte. Er sah eine attraktive Frau in einem schwarzschillernden Kleid, mit geschminkten Lippen und Augen, der eine voluminöse Tasche über der Schulter hing, während sie hochhackig an ihm vorüberstolzierte. Die ein Buch aus der Tasche zog.
»Berg Sieben«, sagte die Frau zufrieden. Sie strich sich die von Birgit geborgten Locken zurück und ließ das Buch in der Tasche verschwinden. Die Erinnerung traf ihn wie ein Schlag.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Nico, als sie Liebermann nach der Probe im Flur des Kindergartens traf. Sie war
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