Kater Serano ermittelt 01 - Katzengold
ihn glauben lässt, die Tote wäre um neun noch quicklebendig. Zwar kann oder will sie aus irgendeinem Grund gerade nichts sagen, aber im Hintergrund ist deutlich zu hören, wo sie sich aufhält. Er muss das angeschaltete Handy nur ans Bett der Vierlinge halten, wo, wie jeden Abend, die CD >Die Stimme des Meeres< läuft.«
Liebermanns Lippen spitzten sich.
»Nicht schlecht. Weiter: Die Leiche befindet sich inzwischen auf dem Hof des Katinkas und wird dort an einer Stelle begraben, die ohnehin für eine Begrenzungsrabatte vorgesehen ist. Später wird Nils Rhododendron darauf pflanzen. Und nun passiert der einzige Patzer im Ablauf der Ereignisse.
Ihr hättet Wachen aufstellen sollen. Denn als die Beerdigung in vollem Gange ist, kommt Reiner von der Arbeit und kürzt seinen Heimweg über den Hof ab. Er ist zwar sturzbesoffen, registriert aber die Leiche neben der Grube. Die Totengräber werden bei seinem Auftauchen in den Hintereingang der Bar geschlüpft sein. Und Reiner tut, was jeder tun würde, ob besoffen oder nicht: Er meldet seinen Fund bei Estrella in der Bar, die ihren Platz am Tresen die ganze Zeit nicht verlassen hat.« Liebermann brach ab. »Hier gibt es eine kleine Lücke. Ich weiß nicht genau, ob es Estrella war, die Reiner eingeredet hat, er hätte den Geist der Musik gesehen. Für meinen Geschmack klingt es eher nach Nils. Jedenfalls glaubt er es bis heute, und sein Glauben trägt Früchte, würde ich meinen. Er hat den Alkohol an den Nagel gehängt. Das ist, mit Verlaub, das einzig Gute, das ich der ganzen Angelegenheit abgewinnen kann. Ansonsten ist sie nichts als eine Katastrophe, ausgelöst durch einen Streich, der vielleicht Zehnjährigen ansteht, nicht aber einer Gruppe intelligenter Erwachsener. Ich weiß nicht einmal, was mich mehr ankotzt: eure Naivität, mit der ihr dieses Viertel zu einer Art Sherwood Forest erklärt habt, die Feigheit, euch der Katastrophe, als sie einmal eingetreten war, zu stellen, oder die Kaltblütigkeit, mit der ihr sie vertuscht habt. Ihr habt doch sonst so viel Phantasie, warum habt ihr sie nicht genutzt, um eine Lösung zu finden, die Goran und seine Familie aus dem Allerschlimmsten hätte heraushalten können, ohne dabei eine Leiche zu ignorieren? Natürlich wäre es nicht ohne Opfer abgegangen, aber verdammt diese Tote hat ein viel größeres Opfer gebracht, für nichts. Euch ist doch klar, dass es genauso gut einer der Bauarbeiter hätte sein können, der vielleicht eine ebenso große Familie zu ernähren hat wie Goran hier? Und als Letztes kotzt mich die Vorstellung an, euch auf Jürgens neuer Terrasse über Nichtigkeiten schwatzen zu sehen, während ihr euer Feierabendbier trinkt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, welcher besondere Dünger für die prächtigen Blüten des Rhododendrons neben euch verantwortlich ist. Eure beschissene, kleingeistige Wohlgefälligkeit kotzt mich an.«
Liebermann lehnte sich gegen das schmale Stück Wand zwischen Tür und Schaufenster. Er war erschöpft, und sein Herz brannte. Er wünschte sich, dass irgendjemand aufstand und ihm sagte, dass jeder Satz der vergangenen halben Stunde, einschließlich jener, die er gerade vor sie hingespuckt hatte, völliger Unsinn war. Dass es nun langsam Zeit wurde, zu den wirklich wichtigen Themen des Abends zu kommen. Aber das Schweigen dehnte sich aus, füllte den Laden bis in die Lücken zwischen den wenigen Waren in den Regalen und wurde nur vom leisen Schnarchen der alten Krebs unterbrochen.
»Entschuldigen Sie!«, sagte Liebermann zu Tante Lehmann, die kerzengerade auf der Bank saß, und steckte sich eine Zigarette an. Zu seiner Überraschung zog sie auch eine aus der Schachtel. Und endlich lösten sich zumindest die Hände. Aus Taschen wurden Päckchen gekramt, Feuerzeuge blitzten, und wenige Sekunden später krochen die ersten Schwaden durch die Luft.
Es war Moritz, der zuerst den Mund aufmachte. »Und was wirst du nun tun, Lektor? Nimmst du uns alle fest?«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Liebermann aufrichtig.
Aller Blicke richteten sich auf Goran, der das Gesicht in den Händen vergraben hielt.
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit«, sagte Liebermann langsam. »Es hängt von euch ab. Wo ist übrigens das Auto?«
Moritz hielt seinem Blick stand. »Inzwischen wohl in Ägypten.«
Liebermann nickte. »Und gehe ich richtig darin, dass der Erlös geteilt und in Umschläge verpackt wurde, die sich jetzt in zehn verschiedenen Haushalten befinden?«
»Neun«,
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