Katerstimmung (German Edition)
Wilhelm und mich auf, dass offiziell ab 22 Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden darf, man aber bei den Chinesen mit ein bisschen Hartnäckigkeit immer noch etwas findet. Kurz darauf wird klar, dass sie das mit dem «Finden» wörtlich gemeint hat. Da die Polizei vor einigen Wochen angeblich sieben der Läden wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz dichtgemacht hat, haben sich die verbliebenen – schätzungsweise 173 – nun überlegt, den Alkoholkauf deutlich zu erschweren. Vorher habe ein durstiges Lächeln genügt, damit Tante Hong unter den Tisch griff und die gewünschten Flaschen in eine blickdichte Plastiktüte des Spielwarengeschäfts von gegenüber packte. Jetzt sei es eher wie Ostereiersuchen, erzählt Tanja, und beim Anblick ihrer Mitbewohner kann ich den Vergleich durchaus verstehen. Mauro wühlt im Chipsregal, während Marta unter dem Gemüse nachsieht und Álvaro den Boden der Gefriertruhe inspiziert. Tante Hong stehen schon die Schweißperlen im Gesicht. «Mucha policía, mucha policía», nuschelt sie und scheint zu befürchten, dass sie das Schild «abierto 364 dias», das offensichtlich die Öffnungstage im Jahr angibt, bald aus dem Schaufenster nehmen muss.
«Here!», ruft Álvaro plötzlich wie ein Siebenjähriger beim Verstecki. Als er drei Tetra-Pak-Rotwein-Klötze hervorholt, fühle ich mich in meinem Verdacht bestätigt: Für Getränke, die man bevorzugt flüssig zu sich nimmt, gibt es geeignetere Aufbewahrungsorte als eine Tiefkühltruhe. Aber da ich heute ohnehin auf Alkohol so viel Lust habe wie der Kölner Fußballfan auf die Tabelle im Aktuellen Sportstudio , kann es mir nur recht sein. Mein Körper hat gestern seine Heimniederlage erlitten, besser er kassiert jetzt nicht auch noch auswärts eine Klatsche.
Die sommerlichen Temperaturen im Parque del Turia verhelfen dem vino tinto schnell, in seinen gewöhnlichen Aggregatzustand zurückzufinden. Wir sitzen im Kreis auf einer Wiese, die auch jetzt gegen Mitternacht noch angenehm warm ist wie das orangefarbene Licht der Parklaternen. Álvaro beginnt sogleich mit der Zubereitung von Calimocho, einem Getränk, das gerade Wilhelm und ich unbedingt probieren müssten. «Du have to drink das!», fordert er und spricht das h in have eher wie ein hartes ch aus. Ich persönlich finde einen Ein-Liter-Plastikbecher mit einer Mischung aus Rotwein und Cola zwar eher ein mittelgutes Getränk, halte mich aber mit Kritik zurück. Vertreter eines Volkes, das hier größtenteils dafür bekannt ist, Sangria aus Eimern zu saufen, sollten mit Kommentaren zur Trinkkultur wohl besser vorsichtig sein.
«Heißt du eigentlich wirklich Wilhelm?», höre ich Tanja fragen. Da muss er mal wieder die Bombe platzen lassen. Wenn er wenigstens ein spießiger Krawattenträger mit adligem Nachnamen wäre. Aber einem linken, autoritätsfeindlichen Weltverbesserer nimmt nun wirklich niemand den Namen Wilhelm ab. Daher nervt ihn wohl noch mehr als sein Spitzname an sich, dass er dauernd erklären muss, wie es dazu kam. Dass er eigentlich Constantin heißt. Dass er bei einem Schullandheimaufenthalt in der elften Klasse Streit mit dem Herbergsvater bekam, «einem ganz üblen Nazi», weil der den ganzen Speiseraum mit Kaiserreichsdevotionalien geschmückt hatte. Dass er mit einem Kumpel eines Nachts einige Sammlerstücke aus Protest abnahm. Dass neben der Erstausgabe der Ueberall – Illustrierte Zeitschrift für Armee und Marine und der Postkartenserie Grüße aus dem Togoland auch eine säulenförmige Büchse mit eingraviertem Relief Kaiser Wilhelms II. dabei war. Dass diese zwar ungewöhnlich schwer, aber keinesfalls als Granatenhülse erkennbar war, als sie mit dem Lagerfeuer hinter dem Haus begannen. Dass plötzlich mitten im Bayerischen Wald eine Stielhandgranate, die später vom Herbergsvater als seine geliebte «OHL Viktoria: Wilhelm lebe hoch!» identifiziert wurde, in ein verlassenes Waldstück einschlug. Dass er dafür letztlich eine saftige Rechnung der Feuerwehr Thannenberg und eine Nominierung für die «rosa Rosa» des antifaschistischen Magazins Linkskräftig bekam. Und dass er eben seither Wilhelm genannt wird. Erwartungsgemäß findet Tanja das alles «cool».
Ich bin in Gedanken weit weg vom Bayerischen Wald. Eigentlich bin ich genau hier. Nur nicht mit Calimocho und gutgelaunten Gaststudenten, sondern mit ihr. Wir liegen in der gleißenden Sonne. Eine einzelne Schweißperle läuft ihren braunen, unbedeckten Rücken herunter. Ich küsse den
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