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Katerstimmung (German Edition)

Katerstimmung (German Edition)

Titel: Katerstimmung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Reinartz
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überhaupt als reale Tiere verstehen soll oder ob sie vielmehr den mentalen Zustand des lyrischen Ichs symbolisieren. Spielen die ‹Vögel› eigentlich gar keine Rolle im Gedicht, sondern treten sie immer nur dann auf, wenn sich das lyrische Ich nicht frei entfalten kann und sozusagen an psychischen Barrieren scheitert?»
    Im Stellen von rhetorischen Fragen ist Wilhelm Spitzenklasse. Erneut meldet sich das gelbe Sakko.
    «Wieso es heißt: Ich glaub, du hast ’en Vogel, die Frage kenn ich schon ? Ist doch keine Frage, oder? Ist Aussage.»
    Stimmt eigentlich. Ich wette, dass das auch Dr. Wilhelm Kamphaus bisher nicht aufgefallen ist. Allerdings lässt er sich nichts anmerken.
    «Ein guter Einwand!» Immer erst mal den Fragesteller loben. «Um kaum einen Vers in der Literatur – neben Paul Celans Metapher der ‹Schwarzen Milch der Frühe› – hat es derartige Interpretationsauseinandersetzungen gegeben! Vielleicht versucht Wackel seinen Protagonisten an dieser Stelle einmal mehr als geistig verwirrt darzustellen und will den Realitätsverlust durch die falsche Begriffswahl des lyrischen Ichs untermauern. Schließlich erkennt es auch nicht die Gefahr der Vögel und den Zusammenhang zwischen ihnen und seiner persönlichen Misere.»
    Was für eine persönliche Misere? Und was für eine Vogelgefahr? Muss ich noch mal fünf Jahre in die Uni, um das zu verstehen, oder reicht es, wenn ich meinen Kopf einmal zielgenau auf die Holzlehne meines Vordermanns hämmere?
    «In die gleiche Richtung geht auch die Interpretation, dass das lyrische Ich die Aussage, also ein Faktum, nicht als solches ansieht und in Frage stellt. Sozusagen einen latenten Mangel an Urvertrauen hat.»
    Der Typ macht mich fertig.
    «Die Psyche des lyrischen Ichs wird auch weiterhin thematisiert. In Vers zwei ist von 100 Mädchen die Rede. Ich frage Sie einmal: Wo begegnet uns die Zahl 100?»
    Sofort eilen die Hände nach oben, als hätte der Klassenlehrer gefragt, wer ein Bett für die französische Austauschschülerin Emmanuelle zur Verfügung stellen könnte.
    «In der Mythologie haben die Hekatoncheiren 100 Arme.»
    «Exakt.»
    «Bevor die Griechen sind gegangen nach Troja, sie haben geopfert 100 Tiere.»
    «Ja.»
    «In Dornröschen von die Grimm-Brüder die Tochter des Königs muss schlafen 100 Jahre.»
    «Ganz richtig.»
    Erst jetzt sehe ich, dass auch Lenny sich gemeldet hat.
    «Könnten die 100 Mädchen auch ein Verweis auf Mickie Krauses Frühwerk der 10 nackten Frisösen sein? Eine Übertreibung?»
    «Auch das, eine intertextuelle Hyperbel.»
    Lenny stößt mich an, deutet auf Wilhelm und zeigt den Vogel. Dr. Kamphaus lässt sich davon nicht irritieren.
    «In jedem dieser Fälle steht die 100 symbolisch für eine sehr hohe, vollkommene, teilweise unbestimmte Zahl. Wie auch in dem Bild der 100 Mädchen. Wenn man sich jedoch die einzelnen Ziffern ansieht, so erkennt man, dass die 100 aus der Eins besteht, in der Zahlensymbolik gerne als Symbol für alles, den Anfang oder Gott verwendet. Und zwei Nullen, ein Symbol für das Nichtvorhandensein von Elementen oder Gegenständen, was den ambivalenten und widersprüchlichen Charakter des lyrischen Ichs verdeutlicht.»
    Ich stelle mir vor, wie der Partynator in Cala Ratata dichtend am Swimmingpool sitzt und überlegt: «Hm, wie viele Mädchen sollen es sein? Gut, die Hekatoncheiren haben 100 Arme, die Griechen haben vor Troja 100 Tiere geopfert, und es wäre auch noch eine intertextuelle Hyperbel der 10 nackten Frisösen – nehmen wir die 100!»
    «Dann wird das lyrische Ich erstmals selbst aktiv. Es möchte sich Hitchcocks Horrorfilm ‹Die Vögel› ansehen. Wobei: Möchte es? Nein, es muss: Ich musst ins Kino gehen . Es wird quasi von den Vögeln, vom Bösen, von seinen größten Feinden angezogen, in deren Bann gezogen. Kennen Sie den Film? Vogelattacken werden darin nicht als Rache der Natur oder als Symbol der Apokalypse benutzt, sondern treten vielmehr immer auf, wenn die Oberflächlichkeit der menschlichen Beziehungen zutage tritt. Und dies ist ja auch Thema des Gedichtes, da auch hier die oberflächliche Begegnung mit einer Frau indirekt von Vögeln gestört wird. Mit der Formulierung ein paar Runden drehen verharmlost das lyrische Ich den Horrorfilm, verkennt die Brutalität der Vögel und sieht nicht, dass – wie Hitchcock es sagte – ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.»
    Wilhelm hat sich jetzt vermutlich schon länger über diese

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