Kates Geheimnis
Lucinda. Ihr Herz raste trotzdem beängstigend. Jill flüsterte: »Kann ich die Taschenlampe mal haben?«
Lucinda gab sie ihr mit grimmigem Gesicht, und Jill ging durch die Hintertür hinaus. Sie rief lauthals nach dem Kater in der Hoffnung, den Eindringling, falls er noch in der Nähe war, endgültig zu vertreiben.
Ein paar Minuten später schlüpfte sie wieder hinein, und auf einmal war das Haus, verglichen mit den dunklen Schatten im Garten, doch einladender. Sie stieß in der Küche wieder auf Lucinda, ohne die Katze gefunden zu haben.
»Vielleicht ist er oben«, meinte Lucinda.
»Hoffentlich.« Jill machte im Vorbeigehen den Kühlschrank zu und wich Glassplittern und Porzellanscherben aus. Ihr Puls schien sich langsam zu beruhigen - aber normal ging er noch lange nicht.
»Na ja, wenigstens können wir davon ausgehen, dass, wer auch immer hier war, schon längst weg ist.«
Auch die Angst hatte nachgelassen, aber Jill blieb unruhig. Der, der das getan hatte, war wütend gewesen. Warum hätte er sonst das ganze Geschirr zerbrochen?
»Ja«, sagte Lucinda gepresst.
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Jill sah sie an, und sofort tat ihr die ältere Frau Leid.
»Lucinda, Sie müssen das hier nicht tun. Es geht mir gut. Ich hab mich furchtbar erschrocken, aber ich fühle mich schon viel besser.« Das war glatt gelogen.
»Ist schon gut, meine Liebe. Ich finde, Sie sollten jetzt nicht allein sein.« Lucinda sah blass aus. Ihre Augen hinter der großen Schildpatt-Brille waren weit aufgerissen.
Jill ging voran, die Treppe hinauf, und rief laut nach Sir John. Fünf Minuten später standen sie ratlos oben im Flur. »Er ist weg«, sagte Jill. »Verschwunden.«
»Ihm ist bestimmt nichts passiert.« Lucinda tätschelte ihren Arm, lächelte aber nicht.
»Wahrscheinlich hat der Einbrecher ihn erschreckt.
Sie kennen ihn doch. Bestimmt versteckt er sich irgendwo.«
Jill sah den Zweifel in ihren Augen. »Hoffentlich.«
»Ich finde, Sie sollten auf meiner Couch übernachten, Liebes«, sagte Lucinda und schaute nervös um sich.
»Danke«, sagte Jill, ohne zu zögern.
Sie gingen hinunter. Jill ließ zwei Lichter brennen und schloss ab, dann gingen sie. Auf dem Weg hinüber fragte Lucinda, was sie nun tun würde.
»Ich weiß nicht.« Jill war sehr angespannt und schaute auf dem kurzen Weg dreimal über die Schulter zurück. Niemand lauerte im Schatten.
Niemand folgte ihnen. »Aber ich bin nicht gerade 600
begeistert von der Aussicht, noch länger hier zu bleiben.« Eine der größten Untertreibungen ihres Lebens. »Vielleicht fahre ich noch mal für ein paar Tage nach Yorkshire.« Mit überraschender Macht drängte sich ein Bild von Kate und dem Turm in ihre Gedanken. Jill wurde langsamer. Sie dachte an die Fotos, die sie in Coke’s Way gefunden hatte. Hal hatte sich aus einem bestimmten Grund von der Ruine angezogen gefühlt. Lag dort des Rätsels Lösung?
Eines wusste Jill jetzt ganz sicher. KC hatte Recht.
Irgendwie rief Kate nach ihr, verzweifelt, über ein ganzes Jahrhundert hinweg. Kate wollte, dass sie herausfand, was wirklich geschehen war. Eine Wahrheit, die andere unbedingt verbergen wollten.
Und diese Wahrheit lag auf dem Lande im Norden.
»Wollen Sie sich erholen -
oder weitere
Nachforschungen über Kates Tod anstellen?«, unterbrach Lucinda ihre Gedanken.
Jill brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen, denn sie war schon in Coke’s Way, war wieder bei dem Turm. Sie musste sich erst einmal wieder in die Gegenwart finden, sich von Zukunft und Vergangenheit losreißen. »Ich will weitersuchen«, sagte Jill. »Ich brauche etwas Handfestes, Lucinda, ich brauche einen wirklich stichhaltigen Beweis dafür, dass Kate meine Urgroßmutter war, dass Edward meinen Großvater gezeugt und Kate getötet hat.« Sie zögerte. »Und wenn er sie nicht umgebracht hat, will ich herausfinden, wer es war.«
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»Und Sie glauben die Antworten auf diese Fragen in Yorkshire zu finden?«, fragte Lucinda und öffnete ihre Haustür.
Jill fiel auf, dass sie nicht abgeschlossen hatte, als sie gegangen waren, um bei Jill nach der Katze zu suchen. »Ich kann es richtig spüren. Ich hatte nicht die Möglichkeit, dort so ausgiebig
herumzuschnüffeln, wie ich wollte. Ich hatte kaum Gelegenheit, Stainesmore und Coke’s Way gründlich zu erforschen. Die Hausangestellten kennen mich ja.
Ich wette, wenn ich nur frech genug bin, kann ich mich wahrscheinlich als geladener Gast einschmuggeln.«
Lucinda nickte. »Jetzt mache ich Ihnen erst mal ein
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