Kates Geheimnis
konnte nicht anders, als ein wenig gehässig zu sein. Nichts, was Lauren sagen mochte, konnte Jills Urteil über ihren älteren Bruder mildern.
Lauren fuhr fort - offenbar wollte sie Jill wirklich für Thomas einnehmen. »Thomas ist ein Beschützer-Typ. Er hat sich immer für uns verantwortlich gefühlt, ich meine, für mich, Alex und Hal. Als wir noch klein waren, ist er immer für uns eingestanden. Wir sind mit jedem Problem zu ihm gekommen, und er hat immer eine Lösung gefunden. Wenn ein Junge mich in der Schule geärgert hat, ist Thomas zu meiner Rettung erschienen. Ich erinnere mich noch an damals, als Alex zu uns gekommen ist - als seine Mutter starb. Mutter und Vater haben ihn in dieselbe 139
Schule geschickt wie Hal. Es war natürlich schwierig für ihn. Er war ein kleiner amerikanischer Gauner, und er war todunglücklich - der absolute Außenseiter.
Bis Thomas der Schule einen Besuch abgestattet hat.
Ich weiß bis heute nicht, was er zu den anderen Jungen gesagt hat, aber danach haben sie Alex allmählich akzeptiert.«
»Okay«, unterbrach Jill, obwohl sie die Geschichte über Alex Preston interessant fand. »Ich verstehe schon. Thomas ist der Ritter in schimmernder Rüstung.«
Lauren überging das. »Wir alle richten uns nach ihm, auch heute noch. Allerdings kümmert er sich jetzt zusätzlich um unsere Eltern. Mutter geht es nicht sehr gut.« Lauren wirkte angespannt. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass Thomas sich die Schuld an Hals Tod gibt. Gestern Abend hat er gesagt, er hätte selbst nach New York fliegen sollen, um ihn nach Hause zu holen. Er meint, dass er Hal nie hätte erlauben dürfen, überhaupt nach New York zu ziehen.« Jill verstand sie nicht. »Hal war erwachsen.
Thomas hatte doch nicht über sein ganzes Leben zu bestimmen.«
»Hal war Künstler. Ich habe dir doch gesagt, dass Thomas seinen Fonds verwaltet.«
Jill war sprachlos vor Staunen. Also konnte Thomas über Hals Geld verfügen. Er hätte Hal ganz einfach zur Rückkehr zwingen können, wenn er gewollt hätte.
140
Es sprach für ihn, dass er das nicht getan hatte. »Hal und ich standen uns besonders nahe«, fuhr Lauren fort. »Er hat mir immer alles erzählt, glaube ich.« Jills Herz schlug einen Salto. »Er ist ja nur zwei Jahre älter als ich. Aber ich glaube, dass sein Tod Thomas sogar noch schlimmer trifft als mich.« Sie schauderte. »Wir alle stehen unter Schock. Bitte verzeih ihm seine Grobheit. Bitte verzeih uns. Es tut uns wirklich Leid.«
Dass Lauren sie um Verzeihung bat, ließ Jill nicht kalt. Wie auch? Jill war ein gutherziger Mensch, und sie wollte mit Thomas fühlen - weil Hal ihn vergöttert hatte. Aus demselben Grund wollte sie auch Lauren mögen. Andererseits erschien ihr diese plötzliche Freundlichkeit irgendwie aufgesetzt. Und warum hatte Thomas sich nicht selbst entschuldigt?
Zweifelsohne deshalb, weil er keineswegs bedauerte, was er gesagt hatte, dachte Jill. »Ich schätze, wir können das Kriegsbeil begraben.« Für einen kurzen Moment sah sie Lauren direkt in die Augen. Jill war sich nicht ganz sicher, wer zuerst wegsah - Hals Schwester oder sie.
»Gut«, sagte Lauren. Sie lächelte. Ihre Augen und Nase waren immer noch rot vom Weinen.
Jill erwiderte ihr Lächeln zaghaft. Das Problem war, dass sie selbst gern Frieden geschlossen hätte.
Aber sie wusste eben, dass Lauren nicht ganz aufrichtig zu ihr war.
141
»Hast du immer noch vor, heute Abend abzureisen?«, fragte Lauren. Jill nickte.
»Hättest du heute gern ein bisschen Gesellschaft?
Ich kann dir London zeigen, wenn du möchtest, und dich zum Essen einladen.«
Jill starrte sie überrascht an. Dann beeilte sie sich, ihr Erstaunen zu verbergen. »Ich wollte eigentlich alleine gehen.«
Lauren wirkte betroffen. »Aber ich dachte, meine Entschuldigungen seien angenommen?«
»Das sind sie.« Jill war gezwungen zu lächeln. »Ich fühle mich nicht besonders«, begann sie.
»Wie wär’s mit einem Essen und einer Privatführung durch London?« Lauren lächelte wieder. »Das Viertel hier ist wirklich sehr schön. Ich würde gern mit dir durch Mayfair spazieren, dir die Houses of Parliament, Buckingham Palace und all diese Touristenattraktionen zeigen.«
Jill zögerte. »Ich hatte eigentlich schon andere Pläne.« Aber sie fragte sich, ob sie Laurens Angebot nicht doch annehmen sollte. Lauren hatte erwähnt, dass die Geschichte der Familie Sheldon Hunderte von Jahren zurückreichte. Jill interessierte sich nur für die
Weitere Kostenlose Bücher