Kates Geheimnis
den Eindruck erweckte, als betrete man das Haus durch einen Tempel.
»Die meisten dieser alten Häuser haben Seen oder Teiche. Üblicherweise sind sie künstlich angelegt.«
Der Wagen hielt vor den breiten, beeindruckenden Stufen der Säulenhalle. Jill, die mit klopfendem Herzen langsam ausstieg, bemerkte erst jetzt, wie hoch die sechs Säulen, die das Vordach hielten, tatsächlich waren. »Hat das Haus drei Stockwerke?«, fragte sie.
»Ja. Aber wie du siehst, sind die Räume im Erdgeschoss sehr hoch.« Jill kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie sah sich um. Links von ihr standen weitere große Gebäude aus Backstein. »Lass mich raten. Die Ställe?«
Lauren nickte. »Heutzutage sind da ein Andenkenladen und ein Cafe für die Touristen drin.«
»Und die Familie ist hier - wohnt hier - wirklich ab und zu?« »Nicht sehr häufig«, gestand Lauren. »Hal hat manchmal wochenlang hier gewohnt, wenn er in London war. Von uns allen hatte er Uxbridge Hall am liebsten. Und als Thomas noch verheiratet war, hat er 146
mit Frau und Kindern die meisten Wochenenden hier verbracht. Er hat es als eine Art Wochenendhaus genutzt.« Sie lächelte.
»Wie weit ist es von hier nach London?«
»Nur gut fünfzehn Kilometer«, sagte Lauren fröhlich. »In früheren Zeiten, als dies der Hauptsitz unserer Familie war, war das sehr angenehm.«
»Als dies der Hauptsitz der Familie war?«, fragte Jill, während sie die Stufen hinaufstiegen. Sie gingen durch die Säulenhalle und kamen in einen offenen Vorhof. Bis zum Eingangsportal waren es noch über fünfzehn Meter.
»Das war vor langer Zeit. Jedenfalls, bevor ich geboren wurde.« »Hat die Familie zu Kates Zeiten hier gelebt?«
Lauren sah sie an. »Wann denn?«
»So um 1906.«
»Ich denke, meine Familie wird damals noch die meiste Zeit über hier gewesen sein. Das Haus in Kensington Gardens wurde zu jener Zeit gebaut, glaube ich.«
Sie überquerten den Hof. Eine große, etwas füllige Frau mit kurzem grauem Haar und einer übergroßen Brille mit Perlmuttrahmen war an der Schwelle des Eingangs aufgetaucht. Sie schien überrascht, sie zu sehen. »Mrs. SheldonWellsely, wie geht es Ihnen, meine Liebe?«
»Hätte ich vorher anrufen sollen, Lucinda?«
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»Aber nein«, sagte die ältere Frau lächelnd. »Dies ist Ihr Zuhause, meine Liebe. « Ihr Lächeln erlosch.
»Es tut mir so Leid wegen Ihrem Bruder. Ich kann es gar nicht fassen. Er war so ein netter junger Mann.«
Jill wand sich unter der Wirklichkeit, die wieder über sie hereinbrach. Sie wollte jetzt nicht an Hal denken, sondern an Kate. Aber wenn sein Name erwähnt wurde, konnte sie den stechenden Schmerz in ihrer Brust nicht ignorieren.
»Danke«, murmelte Lauren. Sie wechselte rasch das Thema und stellte sie einander vor. »Lucinda Becke ist die Verwalterin hier, schon seit ich ein kleines Mädchen war. Dies ist unser Besuch aus Amerika, Jill Gallagher.«
»Ich betrachte mich schon fast als Mitglied der Familie Collinsworth«, sagte Lucinda freundlich zu Jill und streckte ihr die Hand entgegen. Falls sie etwas darüber wusste, in welcher Beziehung Jill zu Hal gestanden hatte - oder über den Unfall , ließ sie sich nichts anmerken. »Seit 1981 bin ich hier die Kuratorin. Ich war gerade dabei, einige interessante Dokumente zu ordnen - Briefe von Ihrem Großvater an seinen Kammerdiener.«
»Dieses Haus ist unglaublich«, sagte Jill, als sie in einem großen, unmöblierten Raum stehenblieben. Die hohe, graublau und weiß gestrichene Decke wurde von Säulen gestützt. In ihrer Mitte prangte eine kreisförmige Stuckverzierung, die wie ein Spiegelbild des Mosaiks auf dem Marmorfußboden aussah. Die 148
Wände zierten kunstvolle Friese, die militärische Motive aus dem alten Rom zeigten. Und an beiden Querseiten des Raumes waren in Nischen offene Kamine eingelassen.
»Das ist heute die Eingangshalle«, erklärte Lucinda.
»Früher hat man hier allerdings Gäste empfangen.
Die Bälle, die hier gefeiert wurden, waren ausgesprochen luxuriöse Feste.« Lucinda lächelte breit. »Es gab sogar die Familientradition, die Hochzeitszeremonie des Erben hier abzuhalten.
Leider endete diese Tradition mit dem achten Earl.«
Sie lächelte Lauren an. »Ihr Urgroßvater war der letzte Collinsworth, der in diesem Saal heiratete.
Wirklich schade.«
Jill betrachtete Lucindas lebhaftes Gesicht, während Lauren fragte: »Könnten Sie uns ein wenig herumführen? Jill interessiert sich für die Geschichte des Hauses.«
»Herzlich
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