Katharsia (German Edition)
später hing über dem Alten ein beachtlicher Nebelschwaden. Nun begannen die kreisenden KORE-Engel, in das Geschehen einzugreifen. Über die Lautsprecher, die zu ihrer Montur gehörten, verkündeten sie: „Achtung, Achtung! Die Demonstration ist aufgelöst! Verlassen Sie unverzüglich den Platz!“
„Nieder mit dem Ballonkopf!“, brüllte die Menge zurück.
Unmittelbar vor dem Eiffelturm stieg wie ein dicker Käfer mit sechs Beinen ein riesiger Hubschrauber auf. Bei genauem Hinsehen erkannte Sando, dass es sich bei den herabhängenden Gliedmaßen des furchteinflößenden Insekts um Rohre handelte, deren Mündungen auf die Demonstranten gerichtet waren.
„Hände weg vom Retamin!“
Es schien, als wollte die Menge mit dem Gebrüll die aufkommende kollektive Angst besiegen.
Sando wurde es mulmig auf seinem Baum. Mit Staunen sah er, dass der Nebel über dem Denkmal heftig zu kreiseln begann. Wie konnte das sein? Sando hatte keine Erklärung dafür. War es der Wille der Masse, der das bewirkte? Unvorstellbar! Wie sollte dabei etwas Sinnvolles entstehen? Oder gab es so etwas wie eine Intelligenz der vielen?
Der Kreisel wurde zum Wirbelsturm, vor dessen Sog die Engel, hastig mit den Flügeln schlagend, das Weite suchten. Die Folge war Triumphgeschrei.
Gebannt beobachtete Sando, was da aus dem Kreisel entstehen würde.
„Komm sofort runter!“, brüllte es unter ihm. Es war Nabil, der verzweifelt versuchte, ihn mit ausgestreckten Armen zu erreichen.
„Nur noch der Kreisel“, gab Sando halblaut zurück. „Ich will wissen, was dabei herauskommt!“
Alles, was Nabil begriff, war, dass der Junge nicht kommen wollte. „Wir hatten eine Abmachung!“, schrie er empört und begann, den Baum zu ersteigen, um Sando herunterzuholen wie eine widerspenstige Frucht.
Inzwischen hatte sich die Kreiselfigur immer weiter aufgebläht. Eine riesige Kugel drehte sich über den erwartungsvoll raunenden Massen. Jenseits des Platzes sah Sando den Hubschrauber. Er hatte in halber Höhe vor dem Eiffelturm Position bezogen und brachte nun seine sechs Käferbeine in Stellung. Die Demonstranten schenkten dem keine Beachtung, denn sie verfolgten die Metamorphose des Retaminkreisels.
Und endlich war es so weit!
Hohngelächter brandete auf. Über den Massen schwebte ein Ballon, der aussah wie die Karikatur des Präsidenten. Jetzt waren auch die Engel wieder da. Ratlos umkreisten sie das Symbol des Mannes, der die Zielscheibe des allgemeinen Hasses war. Auch Nabil, bei Sando auf dem Baum angelangt, schaute belustigt auf diese groteske Szene. Und dann geschah es: Der Ballon explodierte in einem gewaltigen Feuerball. Die Engel, die ihn umkreist hatten, schleuderte es mit brennenden Flügeln in alle Himmelsrichtungen. Der schwere Hubschrauber wurde von der Druckwelle erfasst und driftete schlingernd ab in Richtung Eiffelturm. Plötzlich erfüllte ein ohrenbetäubendes, hartes Knirschen die Luft. Die Kampfmaschine fiel wie ein Stein in die Tiefe, gefolgt von einem Hagel gebrochener Rotorblätter.
Rund um das Denkmal war Panik ausgebrochen. Sie entfaltete eine noch größere Zerstörungskraft als die Explosion. Die Menschen versuchten zu fliehen, überrannten die Polizeisperren, rissen einander zu Boden – und wer nicht wieder hochkam, wurde zertrampelt. Sando beobachtete Seelen. Sie stiegen auf, wurden immer zahlreicher. Die einen wuselten wie irre über den Köpfen der Fliehenden einher, andere hingen reglos über dem Platz, der zunehmend einem Schlachtfeld glich. Instinktiv richtete sich Sando auf, machte Anstalten, vom Baum zu klettern.
Doch Nabil hielt ihn zurück. „Hier geblieben! Hier oben sind wir sicher!“
Er hielt Ausschau nach Denise und Gregor und entdeckte sie zu seinen Füßen. Sie standen eng angeschmiegt an den Baumstamm, der den Strom der Fliehenden teilte.
„Rührt euch nicht vom Fleck!“, rief er besorgt.
„Wir werden uns hüten“, kam es von Denise zurück.
Wenige Minuten später ebbte die tödliche Flut ab. Sando kam es vor, als seien Stunden vergangen, als er vom Baum stieg. Rettungskräfte erschienen und versuchten, den Verletzten zu helfen. Andere stapften mit Ortungsgeräten und Saugrohren über das Schlachtfeld und sammelten versprengte Seelen ein. Auf dem Sockel des Denkmals, das jetzt über den verwüsteten Platz hinweg zu sehen war, erspähte Sando den Alten. Sein weißes Haar wirkte angekohlt, doch er hatte überlebt. Mühsam versuchte er, sich aufzurichten.
„Dieser weißhaarige Alte dort auf
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