Katharsia (German Edition)
Vitelli.
„Machen Sie es sich gemütlich“, forderte er die Gefährten auf.
Er ging mit gutem Beispiel voran, zog sein Jackett aus und ließ sich auf einen der Sitze fallen. Sando warf seinen Rucksack in ein Fach an der Kabinendecke und setzte sich Vitelli gegenüber. In seinem Bauch kribbelte es. Wo mochte die Reise hingehen? Noch hatte es ihm niemand verraten, weder Ben noch Nabil, die sich bereits einen Platz in dem Sesselrund ausgesucht hatten, noch Gregor und Denise, die es offenbar nicht eilig hatten mit der Abreise und noch irgendwo herumtrödelten.
Wo blieben sie? Sando blickte sich ungeduldig um und entdeckte beide im Heck des Gleiters. Gregor hatte sich dort auf einem Sitz niedergelassen. Offenbar zog er es vor, allein zu sein.
„Ich verstehe dich ja, Gregor“, hörte Sando Denise sagen. „Aber das ist doch keine Lösung … Du solltest mit Ben reden!“
Kurzerhand griff sie sich Gregors Tasche und schleppte sie durch den Gang nach vorn, dorthin, wo auch die anderen saßen.
„Komm schon, Gregor! Gib deinem Herzen einen Stoß!“
Gregor erhob sich schließlich und folgte dem kleinen Engel mit versteinerter Miene. Steif setzte er sich zwischen Sando und Nabil und vermied es, Ben anzublicken. Der unterhielt sich angeregt mit Vitelli und tat, als bemerke er nichts.
„Mach dir nichts draus“, brummte Nabil. „Du weißt doch, wie er ist.“
Gregor schwieg und sah aus dem Fenster. In seinen Augen glänzte es feucht.
Denise mitfühlende Seele hielt es nicht mehr aus.
„Ben, hör mal“, unterbrach sie sein Gespräch mit dem Moderator. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich bei Gregor entschuldigen würdest.“
Ben war überrascht, so unverblümt zur Rede gestellt zu werden. „Entschuldigen? Wofür?“, fragte er und das Blut schoss ihm in den Kopf. „Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“
Gregor schloss die Augen. Seine Hände krampften sich in seinem Schoß zusammen und als Denise zu einer Antwort anhob, bat er sie leise: „Hör auf, Denise, du machst es nur noch schlimmer.“
Doch Denise konnte nicht schweigen.
„Also, Ben, den alten Hakim habe ich verehrt. Und weißt du, warum? Er kannte das Wort ,Vergebung‘. Hast du es plötzlich vergessen? Es ist Jahrhunderte her, was Gregor getan hat. Und er hat es tausendmal bitter bereut. Gib ihm eine Chance, Ben! Bitte!“
Ben sah seine Gefährten nicht an. Auf seinem Gesicht tobte ein Sturm widerstrebender Empfindungen. Keiner sagte ein Wort. Selbst Vitelli verkniff sich die Frage nach dem Grund des Streites. Sando sah ihm an, dass er zu gern gewusst hätte, was Ben Gregor vorwarf.
„Er soll sich raushalten, wenn es um Djamila geht“, sagte Ben störrisch.
Denise, erleichtert, dass sich Ben auf ihre Vermittlungsbemühungen überhaupt einließ, wandte sich an Gregor. „Ich denke, das kann Gregor versprechen, nicht wahr?“
Sie schaute ihn aufmunternd an. Gregor nickte kaum merklich. „Na also“, sagte Denise zufrieden und visierte nun wieder Ben an. „Ich will dich ja nicht überfordern, Ben, aber wenn du noch ein kleines Wort des Bedauerns für Gregor übrig hättest, könnte ich euch guten Gewissens allein lassen.“
„Allein lassen?“, fragte Sando. „Wie meinst du das?“
„Mein Vater braucht mich. Ich bleibe in Paris. Und da will ich natürlich sicher sein, dass ihr euch vertragt. Also was ist, Ben? Sag etwas, mir zuliebe!“
Ben seufzte. „Also gut, Denise, wenn es dich beruhigt … Ich muss zugeben, dass ich ein wenig überreagiert habe.“ Er blickte Gregor an. „Schwamm drüber?“
Wieder nickte Gregor nur. Diesmal aber etwas kräftiger.
Denise sagte erleichtert: „Danke, Ben! Dann werde ich mich mal verabschieden. Und streitet euch nicht wieder in Dresden.“
„Wir fliegen nach Dresden?“
Für Sando war der Streit augenblicklich vergessen. Er jubelte innerlich. Endlich würde er seine Heimatstadt wiedersehen – genauer gesagt, deren katharsische Variante. Was hatte diese doch so andere Welt aus Dresden gemacht? Würde er sich dort zurechtfinden, irgendetwas wiedererkennen?
Sando war innerlich aufgewühlt. Vor ihm stand Denise, die Hand zum Abschied ausgestreckt. „Alles Gute, Sando!“, raunte sie ihm ins Ohr. „Wir sehen uns.“
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Wir werden uns langweilen ohne dich, Denise.“ Sandos Stimme klang rau. Der Abschied von dem kleinen Engel dämpfte ein wenig seine Vorfreude auf Dresden.
„Danke, Sando.“
Sie wandte sich zum Gehen. Ihre Flügel
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