Kathedrale
Allerdings verweist Mr. Candlewood zu Recht darauf …«
»Nennen Sie mich John«, bat Candlewood.
Shar nickte, erinnerte sich an die menschliche Neigung zur Vertrautheit, und setzte sein bestes künstliches Lächeln auf. »Verweist John zu Recht darauf, dass Senkowski und Permenter diese Sprache vermutlich nicht schneller als wir entschlüsselt bekämen.«
»Demnach bleibt uns noch maximal eine Stunde, um das Unmögliche zu schaffen«, sagte Bowers. »Denn dann geht unser neuer Freund heim, ohne uns bei der Lektüre des fremden Textes zu helfen. In diesem Fall erfahren wir nie, ob darin mehr über das Objekt in der Oort-Wolke steht.«
»Wir können schon von Glück reden, dass er jetzt noch bei uns ist«, warf Candlewood ein. »Wäre seine eigene Krankenstation beim Angriff auf sein Schiff nicht zerstört worden, wäre er sicher längst dort.«
»Und falls wir ihn nicht rechtzeitig zum Aufbruch der Fremden zurückbringen«, vermutete Shar, »könnten diese das als feindseliges Verhalten auffassen.«
»Also stehen wir wieder am Anfang«, erkannte Candlewood. »Um ein paar Phoneme reicher, aber nach wie vor ohne Syntax und Semantik. Und weit und breit kein Stein von Rosette in Sicht.«
Shar nickte und entsann sich dessen, was er an der Sternenflottenakademie über den Stein von Rosette gelesen hatte. Das vor fast sechs Jahrhunderten in der irdischen Ortschaft Rashid entdeckte Objekt war mit Inschriften versehen, die denselben Inhalt in altgriechischen, demotischen und altägyptischen Schriftzeichen wiedergaben. Seine Übersetzer hatten die rätselhaften ägyptischen Hieroglyphen nur entschlüsselt, weil sie das Demotische und Altgriechische beherrschten. Ohne den Stein von Rosette wäre die Hieroglyphenschrift vielleicht auf ewig unlesbar und die Stimmen ihrer Autoren somit für immer ungehört geblieben.
Besaß der Gamma-Quadrant auch einen Stein von Rosette? Interstellarer Kultur- und Sprachaustausch hatte auch hier sicher schon vor Ewigkeiten begonnen, über Sektorengrenzen hinweg. Es dürfte dem Bordcomputer sämtliche Leistungsstärke abfordern, die Migrationsmuster der alten Sprachen zu rekonstruieren – und gewissermaßen Milliarden metaphorischer Splitter zu einem Stein von Rosette zusammenzufügen.
»Rufen Sie den Text auf«, bat Shar.
Candlewood gab den Befehl an den Computer weiter. Sofort erschienen große, kryptische Zeichen in der Luft oberhalb des Tisches. Piktogramme aus gewundenen Linien, in asymmetrischen Vielecken sowie in Bündeln, überschnitten einander und zerstörten die Muster ihrer Gegenstücke. Von Satzzeichen und Wortzwischenräumen keine Spur.
Die ölschwarzen Augen des Fremden waren auf den Ablauf der Piktogramme gerichtet, zeigten aber kein Anzeichen von Erkennen. Bowers warf Shar einen skeptischen Blick zu. »Glauben Sie, wir erfahren diesmal, was er weiß?«
»Ich glaube«, antwortete Shar und aktivierte den Übersetzer, »dass wir das nur auf eine Weise herausfinden können.« Unauffällig richtete er das Gerät auf den Fremden aus. Er wollte die Geste nicht als Angriff missverstanden wissen. Doch das Wesen wirkte völlig unbeteiligt, obwohl es die Schriftzeichen-Schwebeparade konzentriert betrachtete.
»Alt, sehr, erscheint mir, selbst/ego«, erklang die melodiöse Stimme des Übersetzers. »Erscheint mir nicht alt sehr nur. Stattdessen ist aber altaltalt .«
Shar erschrak, als Bowers plötzlich einen Siegestanz aufführte. Candlewood grinste breit; auch er schien sehr zufrieden zu sein.
Der Text ist nicht nur alt , dachte Shar. Das sich langsam lösende Rätsel faszinierte ihn zu sehr, als dass er in den Jubel seiner Kollegen eingestimmt hätte. Der Fremde bezeichnete ihn als sehr alt.
»Vielleicht handelt es sich um das Buch Genesis«, schlug Candlewood vor, der in ähnliche Richtungen zu denken schien. »Besser gesagt, um die Variante dieses Buches in seinem Kulturkreis.«
Bowers hielt mitten in seinem Tanz inne. »Niemand von uns kann das Buch Genesis im hebräischen Original lesen.«
»Vielleicht genügt ihm nur ein wenig Klarheit«, hoffte Shar. Er reichte den Übersetzer an Candlewood weiter und nahm sich ein Padd vom Tisch. Als er es aktivierte, erschienen die Zeichen auf dem Bildschirm, die noch immer die Aufmerksamkeit des Fremden beanspruchten. Das Padd bediente sich des Datenstroms über Syntax, Phonetik und Psycholinguistik, der aktuell zwischen dem Übersetzungsgerät und dem Hauptcomputer hin- und herging.
Allmählich erschienen in Klammern gesetzte
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