Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
natürlich neugierig, wer mein gutaussehender Begleiter im Cabaret gewesen und warum er so schnell verschwunden sei. Ich erwiderte, es sei für eine harmlose Frau wie mich äußerst schmeichelhaft, wenige Stunden nach ihrer Ankunft auf einem neuen Kontinent nicht nur einen, sondern gleich zwei Verehrer zu haben - und überließ es ihm, mich im Streifenwagen ins Hotel bringen zu lassen.
Mein Schlüssel lag an der Rezeption für mich bereit. Solarins Fahrrad stand nicht mehr vor meinem Zimmer. Da mir eine friedliche Nacht nicht vergönnt zu sein schien, beschloß ich, die wenigen Stunden zu ein paar dringenden Recherchen zu nutzen.
Ich wußte jetzt, daß es eine Formel gab, und zwar nicht nur für die Springer-Tour. Wie Lily vermutet hatte, handelte es sich um eine andere Art Formel - und Solarin selbst hatte sie nicht enträtselt. Und diese Formel hatte ganz bestimmt etwas mit dem Montglane-Schachspiel zu tun.
Nim wollte mich warnen und vorbereiten. Er hatte mir viele Bücher über mathematische Formeln und Spiele mit auf die Reise gegeben. Ich beschloß, mit dem Buch zu beginnen, das Scharrif offenbar am meisten interessiert hatte. Der Autor war Nim, und in dem Buch ging es um die Fibonacci-Zahlen. Ich las fast bis zum Morgengrauen. Meine Entschlossenheit machte sich bezahlt, obwohl ich nicht genau wußte, in welcher Beziehung. Die Fibonacci-Zahlen wurden offenbar nicht nur für Börsenprognosen benutzt. Und darum geht es dabei:
Leonardo Fibonacci war der Erfinder einer Zahlenreihe, in der die ersten beiden Zahlen 1 sind und jede folgende Zahl die Summe der beiden vorhergehenden bildet. Also: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 ...
Fibonacci war eine Art Mystiker; er hatte bei arabischen Gelehrten studiert, für die alle Zahlen magische Eigenschaften besitzen. Er entdeckte, daß die Formel, die die Verhältnisse zwischen benachbarten Gliedern seiner Zahlenreihe beschreibt - nämlich die Hälfte der Wurzel aus fünf minus eins (1/2(√5-1)) -, auch die Struktur aller Dinge in der Natur beschreibt, die eine Spirale bilden.
Wie Nim ausführte, erkannten die Botaniker bald, daß jede Pflanze, deren Blütenblätter oder Stiele spiralig sind, mit Fibonacci-Zahlen beschrieben werden kann. Biologen wissen, daß Nautilusse und alle spiralenförmigen Lebewesen im Meer diesem Schema entsprechen. Astronomen behaupten, daß die Beziehungen der Planeten im Sonnensystem - auch die Form der Milchstraße - mit den Fibonacci-Zahlen beschreibbar sind. Aber mir fiel etwas anderes auf, noch ehe Nim in seinem Buch darauf hinwies. Ich kam nicht darauf, weil ich etwas von Mathematik verstehe, sondern weil ich Musik studiert habe. Diese kleine Formel war nicht von Leonardo Fibonacci entdeckt worden, sondern wird dem zweitausend Jahre früher geborenen Pythagoras zugeschrieben und bestimmt den goldenen Abschnitt beim Goldenen Schnitt.
Einfach ausgedrückt, bezeichnet der Goldene Schnitt die Teilung einer Strecke in zwei Teile, deren größerer - der goldene Abschnitt - sich zum kleineren verhält wie die ganze Strecke zum größeren Teil.
Dieses Verhältnis haben sich alle alten Kulturen in der Architektur, der Malerei und der Musik zunutze gemacht. Platon und Aristoteles betrachteten es als den vollkommenen Maßstab, um zu entscheiden, ob etwas ästhetisch schön sei oder nicht. Aber für Pythagoras hatte der Goldene Schnitt noch sehr viel mehr bedeutet.
Pythagoras war in seinen mystischen Erkenntnissen so weit gekommen, daß ein Fibonacci daneben wie ein Anfänger wirkte. Die Griechen nannten ihn „Pythagoras von Samos“, weil er aus politischen Gründen von der Insel Samos nach Kroton in Unteritalien geflohen war. Aber wie seine Zeitgenossen berichten, wurde er in Tyros geboren, einer Stadt im alten Phönizien - dem heutigen Libanon. Er unternahm ausgedehnte Reisen, lebte einundzwanzig Jahre in Ägypten und zwölf Jahre in Mesopotamien. Als er schließlich nach Kroton kam, war er bereits über fünfzig. Dort gründete er eine mystische Gesellschaft, die nur dürftig als Schule getarnt war. Hier lernten seine Schüler die Geheimnisse, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Diese Geheimnisse kreisten um zwei Dinge: Mathematik und Musik.
Pythagoras fand heraus, daß die Oktave die Grundlage der westlichen Tonleiter ist, denn eine halbierte Saite bringt denselben Ton acht Töne höher hervor als eine Saite, die doppelt so lang ist. Die Frequenz der Schwingung einer Saite ist umgekehrt proportional zu ihrer Länge. Zu seinen Geheimnissen
Weitere Kostenlose Bücher