Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
sich auf die Pritsche, um Strümpfe und Schuhe auszuziehen.
Mireille betrachtete die Skizze und sagte: „Es sieht nach einer Karte aus.“ Dann hob sie den Kopf, und es fiel ihr wieder ein. „Jetzt erinnere ich mich ... Zusammen mit den Figuren haben wir ein Tuch ausgegraben — ein mitternachtsblaues Tuch, das über dem Schachspiel lag. Das Muster auf diesem Tuch sah genauso aus wie diese Zeichnung!“
„Richtig“, sagte Charlotte, „eine Geschichte gehört auch noch dazu. Tu, was ich dir sage. Schnell!“
„Wenn du den Platz mit mir tauschen willst, dann geht das nicht“, rief Mireille. „In zwei Stunden bringt man mich zur Guillotine. Du kannst nicht fliehen, wenn man dich entdeckt.“
„Hör mir gut zu“, erwiderte Charlotte ernst und löste den Knoten ihres Halstuchs. „Die Äbtissin hat mich hierhergeschickt, um dich um jeden Preis zu schützen. Wir wußten schon lange, bevor ich mein Leben riskierte, um nach Montglane zu kommen, wer du bist. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte die Äbtissin das Schachspiel nicht aus dem Versteck geholt. Nicht deiner Cousine war die Mission zugedacht, als man euch beide nach Paris geschickt hat. Die Äbtissin wußte, du würdest niemals ohne Valentine gehen. Aber die Äbtissin hat dich gewählt, denn nur du kannst Erfolg haben...“
Charlotte half Mireille aus dem Kleid. Mireille legte ihr die Hand auf den Arm. „Was meinst du mit: Die Äbtissin hat mich gewählt?“ fragte sie leise. „Warum sagst du, das Schachspiel sei meinetwegen aus dem Versteck geholt worden?“
„Bist du blind?“ sagte Charlotte heftig. Sie nahm Mireilles Hand und hielt sie an die Lampe. „Das Zeichen in deiner Hand! Du bist am vierten April geboren! Du bist die, deren Kommen geweissagt worden ist. Du wirst das Geheimnis des Montglane-Schachspiels lüften!“
„Mein Gott!“ rief Mireille und zog die Hand zurück. „Weißt du, was du da sagst? Valentine ist wegen der Figuren gestorben! Du willst dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil eine Prophezeiung es sagt...“
„Nein, meine Liebe“, sagte Charlotte ruhig, „ich gebe mein Leben.“
Mireille sah sie entsetzt an. Wie konnte sie dieses Opfer annehmen?
„Nein!“ rief sie. „Es darf nicht noch jemand dieser unheimlichen Figuren wegen sein Leben lassen. Das Schachspiel hat bereits genug Angst und Schrecken ausgelöst!“
„Sollen wir beide sterben?“ fragte Charlotte mit Mireilles Kleid in der Hand. Sie unterdrückte die Tränen und wandte den Kopf.
Mireille faßte sie ans Kinn und hob ihren Kopf; sie sahen einander an. Schließlich sagte Charlotte mit zitternder Stimme:
„Wir müssen sie schlagen. Nur du kannst es. Verstehst du immer noch nicht? Mireille - du bist die schwarze Dame!“
Zwei Stunden später hörte Charlotte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. Das bedeutete, die Wachen kamen, um sie zur Hinrichtung zu führen. Sie kniete im Dunkeln neben der Pritsche und betete.
Mireille hatte die Petroleumlampe und ein paar Skizzen von Charlotte mitgenommen - die Skizzen mochten nötig sein, damit sie das Gefängnis unbehindert verlassen konnte. Nach einem tränenreichen Abschied überließ sich Charlotte ihren Gedanken und Erinnerungen. Sie hatte das Gefühl, einen Abschluß, ein Ende erreicht zu haben. Irgendwo in ihr sammelte sich eine stille Gelassenheit, und auch das scharfe Messer der Guillotine würde sie nicht davon trennen können. Sie bereitete sich darauf vor, eins mit Gott zu werden.
Die Tür in ihrem Rücken hatte sich geöffnet und war wieder geschlossen worden - alles lag in Dunkelheit -, aber sie hörte, daß außer ihr noch jemand in der Zelle atmete. Was bedeutete das? Warum führte man sie nicht ab? Charlotte wartete schweigend.
Sie horte, wie ein Zündfunken geschlagen wurde, es roch nach Petroleum, und eine Laterne warf ihr zuckendes Licht durch die Zelle.
„Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle“, sagte eine leise Stimme, bei der es ihr kalt über den Rücken lief. „Ich heiße Maximilian Robespierre.“
Charlotte hob den Kopf nicht; sie zitterte. Sie sah, wie die Laterne sich ihr näherte -, hörte, wie ein Hocker in ihre Nähe gestellt wurde, und vernahm ein Geräusch, das sie nicht identifizieren konnte. War noch jemand in die Zelle gekommen? Sie wagte nicht aufzublicken, um sich davon zu überzeugen.
„Sie müssen sich mir nicht vorstellen“, fuhr Robespierre ruhig fort. „Ich bin bei der Untersuchung und bei dem Prozeß heute nachmittag gewesen. Die Ausweise, die der Ankläger Ihnen aus
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